Archiv Juni 2020

Unerhört, unsichtbar … wie lange noch?

Corona lässt uns nicht los. Das Virus hat uns – allen Lockerungen zum Trotz – noch voll im Griff. Wie lange noch?

Wie lange geht das alles noch? Wann kann mein Kind, das in einem Wohnheim lebt, das Wochenende endlich wieder bei uns Eltern daheim verbringen?

„Wir erfahren am eigenen Leibe Diskriminierungen“, schreibt eine Mutter. Die Tochter ist Autistin – und sie hat eine Befreiung von der sog. Maskenpflicht, dem Tragen eines einfachen Mund-Nasen-Schutzes. Ein großes Einrichtungshaus hat die Familie mit dem Kind ohne Maske nicht reingelassen. Im Urlaub war es eine öffentliche Kultureinrichtungen. Die Familie wehrt sich, schreibt nette Mails, stellt Sachverhalte klar. Die Mutter endet ihr Schreiben an uns mit dem Satz: „Wir haben Angst, dass wir bald in keine Einrichtung – ob privat oder öffentlich – hineinkommen. Schlimm, dass wir alle das miterleben müssen.“

Wie lange noch? Wie wägt man richtig ab zwischen Infektionsschutz und Isolation? Diese Woche sagte ein Mann im Rollstuhl zu mir: „An Ostern waren wir noch alle gleich. Alle – Menschen mit und ohne Behinderung – waren zuhause, hielten Abstand, hatten Kontakte nur übers Telefon, Internet oder Balkon. Und jetzt? Jetzt sind wir Menschen mit Behinderungen sowie alte pflegebedürftige Menschen diejenigen, die möglichst nicht raus sollen. Jetzt sind wir es noch allein, die immer noch ziemlich ausgegrenzt sind. Unerhört, unsichtbar … wie lange noch?“

„Risikogruppe“ allein zuhause … wie lange noch?

Nach drei Monaten Corona-Krise und dem Leben im Ausnahmezustand sehnen wir uns alle nach mehr Normalität im Alltag. Die Landesregierung hat weitere Lockerungen in den unzähligen Corona-Verordnungen beschlossen. Den sonnigen Brückentag am Freitag nutzten viele Menschen, um nicht nur mit Personen aus dem eigenen Haushalt in der Stadt oder in den Parks unterwegs zu sein. Doch was ist mit all denen, denen man zu Beginn der Corona-Krise den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat?

Der Stempel „Risikogruppe“ tut weh. Das berichten mir viele Menschen mit Behinderungen (und deren Familienangehörige), denen man – ungefragt – den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat. Niemand von uns will als Risiko für sich und andere sein. Risiko bedeutet bei uns Gefahr oder Nachteil für sich und andere. Zunächst galten alte Menschen und Menschen mit Behinderungen pauschal zur „Risikogruppe“. Inzwischen differenziert das Robert-Koch-Institut dies und verweist auf ein höheres Risiko z.B. für Menschen mit geschwächter Immunität. Doch was heißt das für den Alltag?

Die „Risikogruppe“ blieb allein zuhause oder in Wohneinrichtungen. Soziale Kontakte fanden nur virtuell statt (vorausgesetzt, dass es technisch ging und die Menschen damit auch umgehen konnten). Einige Eltern berichteten mir, dass selbst die Gratulation zum Geburtstag des Sohnes nur aus der Ferne möglich war. Die Eltern standen vor dem Wohnheim, das Geburtstagskind auf dem Balkon im 1. Obergeschoss. Da fehlt die Umarmung, das liebevolle gedrückt-werden. Das tut weh.

Immer mehr fragen uns an, wie lange das noch dauert. Ich weiß es nicht. Wie schaffen wir Nähe? Viele Menschen mit schweren Behinderungen verstehen einfach nicht, weshalb die Eltern, Freunde nur auf Abstand da sind. Ich werde oft gefragt, wann man denn endlich wieder selber entscheiden darf, was einem gut tut und was nicht. Auch darauf habe ich keine Antwort. Wir alle wollen gesund sein und bleiben. Aber zur Gesundheit gehört auch eine gesunde Seele. Und wir Menschen sind soziale Wesen, die andere Menschen und die Nähe zu ihnen brauchen. Immer mehr Stimmen werden laut, die auf die Gefahr hinweisen, dass alte und / oder behinderte Menschen aufgrund der sozialen Isolation der letzten Monate länger als andere leiden können. Diese Frage beschäftigt uns sehr – und doch haben wir darauf auch keine verbindliche Antwort.

Die Chinesen haben für die Worte „Risiko“ und „Chance“ das gleiche Schriftzeichen. Nehmen wir uns ein Beispiel daran. Wir hoffen, dass aus dem Risiko eine Chance wird, die niemand ausgrenzt.

„Ja“ zur Maskenpflicht und den notwendigen Ausnahmen

Gesundheit ist ein hohes Gut. Das sagen derzeit alle. Für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien ist das aber keine Floskel, sondern die Grundlage für das Leben überhaupt. Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte … das alles bestimmt den ganz normalen Alltag über Jahre und Jahrzehnte.

Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus
Eine Frau mit Behinderung beschrieb in einer E-Mail an mich ihre Ängste: „Viren haben meine Nerven zerstört und mir die Lähmungen beschert. D.h., ich bin grundsätzlich ängstlich, was Viren ausgelöste Krankheiten anbetrifft. Ich halte mich aus dem Grund dem öffentlichen Leben momentan wirklich fern, so gut es geht. Das fällt mir nicht leicht, aber sowohl ich wie auch mein Mann gehören zur Risikogruppe. Ich weiß nicht, ob ich eine Corona-Infektion überleben würde. Deshalb fühle ich mich viel sicherer, wenn sowohl ich als auch meine Mitmenschen, die es können, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Nur so kann ich überhaupt Krankengymnastik machen. Wir haben beide eine FFP 2 Maske an. (…) Ich möchte an alle appellieren, eine Maske zu tragen. Es ist für Leute wie mich wirklich sicherer. Meine Ärztin hat mir ein anderes Attest einfach telefonisch ausgestellt, eben dass ich zur Risikogruppe gehöre. Auch nicht hübsch ,aber es ist halt so. Deshalb die Bitte, auch uns Gefährdete miteinzubeziehen. Ansonsten hocke ich für die nächsten ein bis zwei Jahre daheim fest!“

Wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht …

… ohne Wenn und Aber. Täglich erreichen uns seit Einführung der Maskenpflicht (einfacher Mund-Nasen-Schutz) verzweifelte Rückmeldungen von Menschen mit Behinderungen und Angehörigen, denen man den Zugang zu Läden verweigert, wenn sie keine Maske tragen. Sie haben den Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest dabei. Das interessiert vor Ort niemand. Es kommt auch vor, dass andere Kunden die Menschen mit Behinderungen angehen und beleidigen. Das ist eine Diskriminierung. Und das ist schlicht nicht akzeptabel. Am Freitag hat die Deutsche Presseagentur (dpa) in einem Bericht auch auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Die Beratungsstellen gegen Diskriminierung rufen zu mehr Verständnis für Menschen auf, die aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen keine Maske tragen können.

Auch wir fordern nachdrücklich, mehr über die Ausnahmen von der Maskenpflicht zu informieren. Deshalb haben wir uns wiederholt an die Landesregierung gewandt und um Klarstellung gebeten. Vor Pfingsten haben wir in einer Mail an die Covid-19-Lenkungsgruppe der Landesregierung auf die Dringlichkeit hingewiesen – und wurden vom Staatsministerium auf die Zuständigkeit des Ministeriums für Soziales und Integration verwiesen. Die Landesbehindertenbeauftragte unterstützt unser Anliegen.

Und – um das hier auch klar zu sagen – wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht und „nein“ zu den sog. „Maskenverweigerern“.

„Gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Ich habe Angst, dass ich meinen Arbeitsplatz verliere.“ Dies sagte mir diese Woche eine Frau im Rollstuhl. Sie lebt in einer gemeinschaftlichen Wohnform und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). „Ich arbeite am Computer. Und jetzt kehren die ersten Beschäftigten wieder in die WfbM zurück – aber nur die, die mit Bus oder Bahn selber zur Werkstatt kommen können. Und ich muss noch in der Wohngruppe bleiben, weil ich einen Sonderfahrdienst brauche. Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Arbeit ist für Menschen mit Behinderung mehr als Broterwerb.
Arbeit bedeutet auch:
– Tagesstruktur im Alltag
– Anerkennung für das, was man tut
– Soziale Kontakte

Die Arbeit fehlt. Zunächst fühlte sich alles nach Urlaub an. Aber jetzt sind die Werkstätten schon über zwei Monate geschlossen. Nur wenige sind inzwischen zurück. Und es fällt schwer, zu verstehen, warum Kollege A schon wieder arbeiten darf und man selbst noch nicht. Klar, es geht um den Schutz der Gesundheit. Und wir alle wollen gesund bleiben.

Es ist nicht einfach, die Corona-Verordnungen zu verstehen. Wir müssen erklären, warum wer schon wieder zurück in die Werkstatt darf und warum andere das noch nicht dürfen. Wir im LVKM machen dies so gut wir können. Einfach ist es nicht. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass das Abstand halten im Kleinbus schwieriger ist als in der Stadtbahn oder im großen Bus. Die Regeln müssen verständlich sein – für alle.

„Nur weil ich im Rollstuhl sitze und nicht allein mit dem großen Bus fahren kann, muss ich daheim bleiben. Das ist gemein. Ich versteh‘ das nicht“, sagt die Frau am Telefon. Sie ist einsam, traurig und wütend. „Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch? Oder macht es dann jemand anderes? Und was wird dann mit mir? Was mache ich?“ Ganz ehrlich: ich weiß es nicht. Für die Anruferin war es nur ein kleiner Trost, dass ich ihr sagte, dass sie auf jeden Fall weiter in der Werkstatt arbeiten kann. Als Werkstattbeschäftigte kann sie nicht gekündigt werden.

Die Werkstatträte Baden-Württemberg machen ihren Kollegen Mut. Sie erklären in einem offenen Brief, wie es weitergehen kann. Sie finden den Brief unter https://www.wr-ba-wue.de/dokumente/upload/15512_Liebe_Kolleginnen_und_Kollegen.pdf