Archiv Dezember 2020

Das große Warten auf den Impftermin hat begonnen

Am Wochenende fiel der Startschuss für die groß angelegte Impfaktion gegen Corona. Und der erste Ansturm für Impftermine in den rasch aufgebauten Impfzentren zeigt deutlich, dass die vorhandenen Impfdosen im Moment nur den Tropfen auf dem heißen Stein sind … warten ist angesagt. Wir, die wir in der alten BRD aufgewachsen sind, kennen es nicht aus unserem Alltag, dass eine Ware nicht in ausreichender Zahl lieferbar ist. „Der Impfstoff gegen Corona ist halt derzeit noch eine Mangelware. So ging es uns zu DDR-Zeiten auch mit Bananen. Die gab es auch nicht immer,“ lautete dieser Tage der Kommentar einer Bekannten, die in der DDR aufgewachsen ist. „Du musst halt warten können.“

Doch anders als bei Bananen geht es bei Corona im schlimmsten Fall um Leben und Tod. Solange es weniger Impfstoff gibt denn Menschen gibt, die sich impfen lassen wollen, braucht es eine streng festgelegte Reihenfolge der Prioritäten. Das Bundesgesundheitsministerium hat sich an den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) orientiert und am 18. Dezember 2020 wurde auf Bundesebene die Coronavirus-Impfverordnung veröffentlicht, die die Anspruchsberechtigung in drei Gruppen auflistet: Personen mit höchster, hoher und erhöhter Priorität. Nachzulesen unter https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Verordnungen/CoronaImpfV_-_De_Buette.pdf

„Wer darf sich zuerst gegen Corona impfen lassen?“
lautete vor Weihnachten eine der am häufigsten gestellte Frage an uns. Und so lautet auch die Überschrift der Pressemitteilung unserer Fachverbände auf Bundesebene am 10. Dezember 2020. Sie fordern u.a. eine bundeseinheitliche Rangfolge sowie einen schnellen Zugang zum Impfstoff für Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung in Institutionen und Angehörige von Kindern mit relevanten Vorerkrankungen.

„Die Schwächsten zuerst“ lautet die Formel für die festgelegte Reihenfolge. Die Erfahrungen der vergangenen 10 Monate zeigen, dass vor allem hoch betagte Menschen in Pflegeheimen besonders schwer an Corona erkranken können. Doch es verwundert – und verärgert – viele Menschen mit schweren Behinderungen, dass unter 60-jährige Menschen mit schweren Behinderungen und Vorerkrankungen, die ambulant zuhause – von pflegenden Familienangehörigen, ambulanten Pflegediensten und / oder im sog. Arbeitgeber-Modell versorgt werden, von der STIKO nicht als so stark gefährdet eingeschätzt wird – und diese Personengruppe sich auch nicht nicht in der Impfverordnung wiederfindet.

„Wurden wir vergessen? Sind wir die unsichtbare Risikogruppe?“
wurde ich in den Tagen vor Weihnachten vielfach gefragt. Ehrliche Antwort meinerseits: ich weiß es nicht. Die Debatte zeigt mir auch jetzt, dass es nicht nur bei der Vergabe von Impfterminen, bei dem Ausliefern des Impfstoffes und beim Betrieb der Impfzentren noch „ruckelt“. Es „ruckelt“ auch an der Aufklärung. Menschen mit Behinderungen sind es aufgrund ihrer Biografie gewohnt, zu warten, sich hintenanzustellen. Sie sind geduldig. Aber wir fordern ganz schnell nachvollziehbare Gründe für die Festlegung der Prioritäten. Der Verweis auf den Mangel an Impfstoff reicht nicht aus. Es reicht auch nicht aus die Hoffnung, dass bald auch andere Impfstoffe die Zulassung erhalten werden und dann mehr Impfstoff bereit steht und in ein paar Monaten die Welt ganz anders aussieht und viel mehr Menschen geimpft werden können. Oder – wie es ein unter 60-jähriger Mann mit komplexen Behinderungen und diversen Vorerkrankungen, der ambulant in der eigenen Wohnung von einem Assistententeam versorgt wird, formulierte – „werde ich die Wintermonate gesund durchstehen und werde ich die Impfung noch erleben?“

INFO
Das Ministerum für Soziales und Integration Baden-Württemberg bündelt auf seiner Internetseite alle Informationen rund um die Coronaschutzimpfung, nachzulesen unter https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/gesundheit-pflege/gesundheitsschutz/infektionsschutz-hygiene/informationen-zu-coronavirus/impfen/

Brauchen wir den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“?

1993 haben die Vereinten Nationen den 3. Dezember zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ ausgerufen. An diesem Tag soll der Blick ganz bewusst auf die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderungen weltweit gelenkt werden. Hierzulande wurde seither das Grundgesetz und die Landesverfassung Baden-Württemberg ergänzt um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Gleichstellungsgesetze im Bund und im Land wurden beschlossen, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen in den Stadt- und Landkreisen verpflichtend eingeführt und die UN-Behindertenrechtskonvention wurde als einfaches Bundesgesetz 2009 beschlossen. Ist damit alles paletti?

„Ja, wir brauchen einen solchen Aktionstag – noch!“

LVKM-Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg: mit Maske und Abstand wie es in Coronazeiten üblich ist Am 3. Dezember war ich als Interviewpartnerin zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg. Und natürlich ging es um diesen Aktionstag und die Frage, ob man einen solchen Tag noch braucht. Und schnell waren sich die Redakteurin und ich uns einig, dass wir den Tag noch brauchen. „Ist der Tag nicht auch ein Symbol dafür, was fehlt, nämlich die selbstverständliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen in unserem Alltag.“ Und das musste ich – leider – so bestätigen. „Menschen mit Behinderungen werden von der Gesellschaft am Rande wahrgenommen, als eine Minderheit, die man beachtet oder nicht. Aber Menschen mit Behinderungen gehören mitten in die Gesellschaft. Es ist eine große Gruppe. Und die Vereinten Nationen haben diesen Aktionstag ausgerufen, damit viele darüber „stolpern“ und nachdenken. Und – so meine Hoffnung – dass es irgendwann mal dazu kommt, dass man diesen Aktionstag nicht mehr braucht.“

In Zeiten von Corona ist mein Eindruck, dass Inklusion gestern war und wir heute um Jahrzehnte in unserem Bemühen für eine selbstverständliche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zurückgeworfen werden. Denn gerade in der Krise haben viele Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen den Eindruck, vergessen zu werden. Sie sind ja auch nicht laut, gehen auf die Straße und demonstrieren – weil sie den Alltag organisieren müssen, die Pflege und Betreuung sicherstellen, Home-Office und Home-Scooling unter einen Hut bringen müssen – und die so dringend benötigte Entlastung der Familien nahezu auf Null heruntergefahren ist. Die Familien sind auf sich allein gestellt – und dabei waren viele Familien schon vor Corona am Limit. Corona bremst aus. Die Familien leiden.

Meine Forderung: Menschen mit Behinderungen gehören dazu und dürfen nicht vergessen werden. Es braucht mehr Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gerade auch in Coronazeiten. Und solange es nicht selbstverständlich ist, dass von Anfang an die besonderen Belange der Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien mitgedacht wird, so lange braucht es auch noch Aktionstage wie den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“.

Mehr Infos zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ gibt es unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/301408/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung