Archiv August 2021

Barrierefreies Wählen – einfach machen!

Noch gut fünf Wochen bis zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Die Wahlbenachrichtigungen sind verschickt. Für viele Menschen mit Behinderungen ist es selbstverständlich, wählen zu gehen. Mitbestimmung ist für sie keine Nebensächlichkeit. Das Recht, wählen zu dürfen, haben sie sich gemeinsam mit den Selbsthilfeverbänden hart erkämpft. Keine Spur von Wahlmüdigkeit – im Gegenteil.

Demokratie braucht Inklusion!“

„Demokratie braucht Inklusion“, sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Stimmt. Der Bundeswahlleiter weist vor der Bundestagswahl darauf hin, wie wichtig der barrierefreie Zugang zum Wahlraum besonders für Wahlberechtigte mit Mobilitätseinschränkung ist. Seine Stimme per Briefwahl abzugeben ist – gefühlt – nicht das Gleiche wie die Stimmabgabe im Wahlraum. Demokratie wird auf ganz besondere Weise erlebbar, wenn man als Wahlberechtigte den ausgefüllten Stimmzettel im Wahlraum in die Urne einwirft. Es fühlt sich gut und richtig an.

„Ihr Wahlraum ist nicht rollstuhlgerecht.“

Sven Fichtner ist in Stuttgart Mitglied im Beirat für Menschen mit Behinderung. Die Wahlbenachrichtigung, die er vor einigen Tagen per Post erhielt, weist darauf hin, dass der Wahlraum nicht barrierefrei ist. Was also tun, wenn er als Bürger im Rollstuhl seine Stimme im Wahlraum abgeben will? Er will sich nicht damit abgeben, „dass das halt so ist. Der Aktivist hat eine Erklärung verfasst, in den sozialen Medien veröffentlicht sowie an die Stadtverwaltung Stuttgart, den städtischen Beirat für Menschen mit Behinderungen sowie an uns geschickt. Seine Erklärung im Wortlaut:

„Jeder wahlberechtigte Mensch in unserer Stadt muss seine Stimme in Wahllokalen abgeben können.
Es ist eine tiefe Verletzung unserer Menschenrechte, wenn wir wegen fehlender Barrierefreiheit nicht an Wahlen in einem Wahllokal teilnehmen können. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade.
Wir fordern dieses Menschenrecht ein und wollen von der Politik Lösungen sehen. Viele von uns deren Behinderung angeboren ist, haben noch nie in ihrem Leben in einem Wahllokal an Wahlen teilgenommen. Für manche ist die Teilnahme an der Wahl per Briefwahl eine Wahlmöglichkeit die andere gar nicht haben, sie haben gar keine andere Möglichkeit und somit keine Wahl.
Die Teilhabe am politischen Leben ist schon in dieser Form in der wir laut Gesetz endlich mit der Abgabe unserer Stimme an unserer Demokratie teilnehmen können massiv beeinträchtigt und ist für uns eine nicht länger hinnehmbare Verletzung unserer Menschenrechte, denn die bisherige Möglichkeit an der Teilnahme von Wahlen in Stuttgart  entspricht nicht der UN – Behindertenrechtskonvention, hier ist die fehlende bauliche Barrierefreiheit nur eine von vielen Menschenrechtsverletzungen.“

Demokratie lebt vom Mitmachen. Machen wir mit – und gehen wählen. Jede Stimme zählt!

Infos zum barrierefreien Wählen gibt es unter https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021/informationen-waehler/barrierefreies-waehlen.html.

Bahnstreik: Es fährt kein Zug nach nirgendwo …

Am Dienstag verkündete die Lokführergewerkschaft GDL, am Mittwoch und Donnerstag den Personenverkehr der Deutschen Bahn (DB)zu bestreiken. Streik ist ein legales Mittel, Arbeiternehmerrechte zu erstreiten. Keine Frage. Die DB hat mit einem Ersatzfahrplan reagiert. Doch viele Zugverbindungen dennoch aus.

Hauptbahnhof Stuttgart: Kein Zug fährt.
Hauptbahnhof Stuttgart am Donnerstag: viele Züge fallen aus aufgrund des Bahnstreiks

Für Bahnkunden ohne Behinderung ist so ein Zugausfall lästig, weil oft die Reisezeit sich verlängert und mit mehr Umsteigen verbunden ist. Für mobilitätseingeschränkte Menschen – egal, ob Rollstuhlnutzer, Rollator, blind / sehbehindert – bedeutet nahezu jede Fahrplanabweichung, dass die Bahnfahrt am Bahnsteig endet – und jede Menge Stress, den kein Mensch braucht. Am Donnerstag waren wir daher am Stuttgarter Bahnhof – begleitet von einem Kamerateam des SWR für einen Beitrag in den Landesnachrichten.

Eine Frau im Elektro-Rollstuhl steht am Bahnsteig. Sie berichtet einem Team des SWR, welche Auswirkungen der Bahnstreik für sie hat.
Rollifhahrerin Ines Vorberg schildert, wie sie durch einen Bahnstreik ausgebremst wird.



Hurra, nur ein Bahnsteigwechsel?!

Wenn ein Zug mal nicht am geplanten Bahnsteig einfährt, wen juckt das schon? Klar, alle, die gut zu Fuß sind und auch sonst keine Einschränkungen haben, „juckt“ das nicht. Man muss sich kurz orientieren und schon geht alles seinen gewohnten Gang. Ganz anders für gehbehinderte Menschen und Menschen im Rollstuhl. Wenn der Zug an einem Bahnsteig hält, an dem es keinen Aufzug gibt oder der mal wieder außer Betrieb ist, endet die Reise am Bahnsteig. Dann heißt es, auf den nächsten Zug zu warten, hoffen, dass man mitfahren kann und zu einem Bahnhof zu gelangen, an dem man auch vom Bahnsteig runterkommt. Doch wie organisiert man dann den Weg zum eigentlichen Zielort? Oder Feuerwehr oder Polizei rufen, ob die mit Muskelkraft weiterhilft? Es ist Mist – und leider nichts Ungewöhnliches wie mir viele Betroffene immer wieder erzählen. Abenteuer Bahnreise – und das mit dem regulären Ticket. Klar, im Nachhinein und mit zeitlichem Abstand kann man so manche Anekdote erzählen. Aber wenn man abends um 20 Uhr allein auf dem Bahnsteig steht, da ist das alles andere als lustig. Panik und Stress sind die ständigen Begleiter.

Infos über Abweichungen? Barrierefreie Infos?
Seine Erfahrungen beschreibt ein Mann mit Seheinschränkung folgendermaßen: „Auch Menschen mit Sinnesbehinderungen sind, wie Leute im Rollstuhl, vom Streik in spezieller Weise betroffen, das kann ich Ihnen aus meinen Erfahrungen aus 30 Jahren als Berufspendler versichern. Vor allem die problematische Informationsbeschaffung und das Gedränge auf Bus- und Bahnsteigen waren jedes Mal abenteuerlich.  Auch das Entgegenkommen des Arbeitgebers, dem man flexible Arbeitszeiten zumuten musste, war alles andere als selbstverständlich.“

Alternative: Ersatzfahrplan, Schienenersatzverkehr mit Bus oder doch Taxi?
Reisende im Rollstuhl müssen frühzeitig ihre geplante Fahrt bei der Mobilitätszentrale der Bahn anmelden, damit an den Bahnhöfen ggf. ein Hublift sowie Assistenten beim Ein-, Aus- und Umsteigen helfen können. Spontan mit der Bahn reisen, geht sowieso nicht. Alles ist genau getaktet. Und wenn nun ein Zug ausfällt, erhebliche Verspätungen hat, so kann nicht immer die notwendige Mobilitätshilfe gewährleistet werden. Auf der Internetseite der Bahn sind die Bahnhöfe aufgelistet, die Mobilitätshilfen haben und deren Servicezeiten. An vielen Bahnhöfen ist um 20 Uhr Schluss, an anderen Bahnhöfen gibt es aber gar nichts. Eine Herausforderung.

Schienenersatzverkehr Bus: ist der Bus barrierefrei? Sind die Haltestellen barrierefrei? Ist der Weg dorthin barrierefrei? Infos dazu gibt es nicht. Zwar gibt es – nach erheblichem politischen Druck der Selbsthilfeverbände – inzwischen die gesetzlichen Grundlage dafür, dass auch Fernbusse barrierefrei sein müssen. Doch der Alltag sieht noch völlig anders aus. Und die langen Vorlaufzeiten, die es gibt, um eine Fahrt mit dem Rollstuhl im Fernbus starten zu können, beträgt bei einigen Anbietern mindestens eine Woche. Fällt also kurzfristig ein Zug aus, kann man nicht mal gschwind auf den Fernbus wechseln. Ausgebremst.