Brauchen wir den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“?

1993 haben die Vereinten Nationen den 3. Dezember zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ ausgerufen. An diesem Tag soll der Blick ganz bewusst auf die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderungen weltweit gelenkt werden. Hierzulande wurde seither das Grundgesetz und die Landesverfassung Baden-Württemberg ergänzt um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Gleichstellungsgesetze im Bund und im Land wurden beschlossen, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen in den Stadt- und Landkreisen verpflichtend eingeführt und die UN-Behindertenrechtskonvention wurde als einfaches Bundesgesetz 2009 beschlossen. Ist damit alles paletti?

„Ja, wir brauchen einen solchen Aktionstag – noch!“

LVKM-Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg: mit Maske und Abstand wie es in Coronazeiten üblich ist Am 3. Dezember war ich als Interviewpartnerin zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg. Und natürlich ging es um diesen Aktionstag und die Frage, ob man einen solchen Tag noch braucht. Und schnell waren sich die Redakteurin und ich uns einig, dass wir den Tag noch brauchen. „Ist der Tag nicht auch ein Symbol dafür, was fehlt, nämlich die selbstverständliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen in unserem Alltag.“ Und das musste ich – leider – so bestätigen. „Menschen mit Behinderungen werden von der Gesellschaft am Rande wahrgenommen, als eine Minderheit, die man beachtet oder nicht. Aber Menschen mit Behinderungen gehören mitten in die Gesellschaft. Es ist eine große Gruppe. Und die Vereinten Nationen haben diesen Aktionstag ausgerufen, damit viele darüber „stolpern“ und nachdenken. Und – so meine Hoffnung – dass es irgendwann mal dazu kommt, dass man diesen Aktionstag nicht mehr braucht.“

In Zeiten von Corona ist mein Eindruck, dass Inklusion gestern war und wir heute um Jahrzehnte in unserem Bemühen für eine selbstverständliche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zurückgeworfen werden. Denn gerade in der Krise haben viele Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen den Eindruck, vergessen zu werden. Sie sind ja auch nicht laut, gehen auf die Straße und demonstrieren – weil sie den Alltag organisieren müssen, die Pflege und Betreuung sicherstellen, Home-Office und Home-Scooling unter einen Hut bringen müssen – und die so dringend benötigte Entlastung der Familien nahezu auf Null heruntergefahren ist. Die Familien sind auf sich allein gestellt – und dabei waren viele Familien schon vor Corona am Limit. Corona bremst aus. Die Familien leiden.

Meine Forderung: Menschen mit Behinderungen gehören dazu und dürfen nicht vergessen werden. Es braucht mehr Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gerade auch in Coronazeiten. Und solange es nicht selbstverständlich ist, dass von Anfang an die besonderen Belange der Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien mitgedacht wird, so lange braucht es auch noch Aktionstage wie den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“.

Mehr Infos zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ gibt es unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/301408/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung

„Inklusion in der Krise?!“

Wer spricht in der Corona-Krise von Inklusion, also der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in der Gesellschaft? Fast niemand. Es scheint, dass sich derzeit nur Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und deren Selbsthilfeverbände Gedanken machen, wie Inklusion in der Corona-Krise und danach gelebt werden kann. Das Miteinander bröckelt. Diese Erkenntnis tut weh.

Der Tübinger Oberbürgermeister schlug vor kurzem vor, dass die Zeit zwischen 9.30 und 11 Uhr für Senioren reserviert werden sollen, die diese dann zum Einkaufen nutzen sollen. Und er appellierte an die Senioren, freiwillig auf das Busfahren ganz zu verzichten, um sich und ihre Gesundheit zu schützen. Umgehend wies der Vorsitzende des Landesseniorenrates Baden-Württemberg diese Vorschläge zurück und kritisierte die Stigmatisierung älterer Menschen aufgrund des Lebensalters.

Es ist und bleibt eine Gratwanderung. Wie schützen wir unsere Gesundheit und wie können wir dennoch teilhaben? Die eine einzige Antwort darauf gibt es nicht. Wir wollen uns aber auch in der Corona-Krise nicht die Selbstbestimmung wieder nehmen lassen. Wir müssen auch selbst entscheiden können, was uns gut tut und was weniger. Der Gedanke, dass wieder eine Besuchseinschränkung kommt, macht Angst. Beschränkungen wie Kontaktverbote sind derzeit leider notwendig, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber die Schutzmaßnahmen müssen angemessen sein. Und darüber brauchen wir eine Debatte.

Die Landesregierung richtet ein „Bürgerforum Corona“ mit rund 40 bis 50 zufällig ausgewählten Menschen ein. Als Arbeitsgrundlage dient eine Themenlandkarte. „Menschen mit Behinderungen“ oder „Inklusion“ finden sich bislang darauf nicht. Inklusion ist ein Menschenrecht, verankert in der UN-Behindertenrechtskonvention. Es liegt (wieder) an uns, uns einzumischen, dass Menschen mit Behinderung und ihr Anspruch auf Teilhabe nicht vergessen werden. Machen wir also mit! Bis zum 26. November 2020 können wir die Themenlandkarte noch kommentieren! Mehr dazu unter https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/mitmachen/lp-16/buergerforum-corona/online-beteiligung/

Die Erfolgsgeschichte „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg geht weiter!

„Unser Stadtbummel ist begrenzt auf die Zeit, in der die Windelhose unserer Tochter nicht überläuft, also max. 2 – 3 Stunden. Wenn es schnell gehen muss, wickeln wir halt auf dem Fußboden einer öffentlichen Toilette, auf der Wiese oder auch auf der Rückbank unseres Autos. Menschenwürdig ist das nicht, aber was sollen wir machen? Immer daheim bleiben? Das geht auch nicht.“ Täglich erreichen uns solche ähnliche Rückmeldungen von Eltern von (erwachsenen) Kindern mit komplexen Behinderungen.

Wissen Sie, wie viele öffentliche Toiletten es in Baden-Württemberg gibt?
Haben Sie jemals darüber nachgedacht?

Zugegeben, wir kennen die Antwort auch nicht. Jedenfalls sind es sehr, sehr viele. Und so müssen wir uns auch keine Gedanken über deren Zahl machen und unsere Ausflugsziele am Standort von öffentlichen Toiletten oder öffentlich zugänglichen Toiletten auszuwählen. Das ist Luxus pur.

Die Zahl der öffentlich zugänglichen „Toiletten für alle“ kennen wir ganz genau. Landesweit gibt es aktuell 61 solcher Einrichtungen. „Toiletten für alle“ sind extra große Rollstuhltoiletten, die zusätzlich mit einer (höhenverstellbaren) Pflegeliege für Erwachsene, einem Patientenlifter für den rückenschonenden Transfer vom Rollstuhl auf die Liege und zurück sowie einem luftdicht verschließbaren Windeleimer ausgestattet sind. Oder es sind „Nur-Wickelräume“. Und extra groß bedeutet, dass die Räume mindestens 7 qm groß, häufig deutlich mehr. Das ist auch dringend notwendig, wenn ein Mensch im Rollstuhl von Assistenzpersonen begleitet wird.

Seit knapp fünf Jahren ist unser Landesverband im Auftrag des Ministeriums für Soziales und Integration unterwegs, für „Toiletten für alle“ zu werben und potenzielle Bauherren (und -frauen) zu beraten. Das Land fördert die Zusatzausstattung „Liege, Lifter, Windeleimer“ mit 90 Prozent Zuschuss, max. 12.000 Euro. Das ist bundesweit einmalig und ein wirksamer Baustein für gelebte Inklusion.

Mitten in den Sommerferien hat uns jetzt die gute Nachricht erreicht: die Förderung geht weiter! Damit können wir der Erfolgsgeschichte „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg weitere Kapitel anfügen! Jetzt brauchen wir Ihre Hilfe! Wo brauchen Sie eine „Toilette für alle“? Helfen Sie mit, weitere Standorte umzusetzen! Die Antragsfrist endet am 15. November 2020.

Mehr Infos zu „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg, alle Standorte sowie den Förderaufruf finden Sie unter https://www.toiletten-fuer-alle-bw.de/

„Corona macht einsam.“

Die Wochen des sog. Lock-down in der Corona-Krise liegen schon einige Wochen zurück. Wenn man derzeit durch die Innenstädte geht, herrscht fast schon wieder „Normalzustand“. Gedränge, dicht besetzte Straßencafés … nur am Eingang der Ladengeschäfte, an den Haltestellen der Busse und Bahnen weisen Plakate und Aufkleber hin auf Abstand halten und sog. Maskenpflicht …

Diese Woche traf ich einen Mann mit Behinderung, der seit vielen Jahren in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeitet und allein in einer eigenen Wohnung lebt. Als wir uns trafen, sagte er: „Corona macht einsam. Die Arbeit in der Werkstatt hat mir gefehlt. Der Kontakt zu den Arbeitskollegen hat mir gefehlt. Ich war allein zuhause. Keine Kontakte, nichts. Alleine wohnen ist echt doof. Was soll ich nur machen? Ich kann doch nicht wieder daheim bei meinen Eltern einziehen. Meine Eltern sind über 80 Jahre alt. Und einmal daheim ausziehen, ist für immer. Aber allein wohnen ohne Kontakte, ist auch nichts. Aber ich kann doch auch nicht in ein Wohnheim ziehen. Was soll ich nur machen? Ist das Inklusion? Dann will ich das nicht.“

Menschen mit Behinderungen, die alleine leben, fühlen sich allein gelassen. Von einem Tag auf den anderen war der Alltag weg. Die Strukturen, die Sicherheit geben, waren weg. Und neue Strukturen gab es nicht – und gibt es nicht. Corona macht einsam. Zu diesem Ergebnis kamen auch aktuelle Studien. Dabei wurde die Situation von Menschen mit Behinderungen nicht extra untersucht. Was tun gegen Einsamkeit, Depression und Langeweile? Eine allgemein verbindliche Antwort gibt es nicht. Und der Verweis, dass es auch viele Menschen ohne Behinderung gibt, die sich einsam fühlen, hilft nicht weiter.

Nun steigen wieder die Zahl der Neuinfektionen. Experten warnen vor der „zweiten Welle“ in der Corona-Krise. Doch welche Lehren ziehen wir aus der „ersten Welle“? Wie schaffen wir es, dass Menschen mit Behinderungen sich auch künftig trauen, alleine zu leben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wie schaffen wir es, dass Inklusion im Alltag machbar wird? Helfen wir alle mit, dass wir in der Nachbarschaft, in unserem Stadtteil, in unserem Quartier solidarisch sind, uns kümmern und uns gegenseitig helfen. Trauen wir uns, auch in Zeiten des „social distancing“ auf andere zuzugehen und zu sagen, dass wir Hilfe brauchen. Jetzt, hier und heute. Das braucht Mut! Seien wir also mutig und wagen den ersten Schritt! Auch das ist Inklusion!

„Wir müssen leider draußen bleiben.“

Menschen mit Behinderungen und ihre Familien wollen sich und andere vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus schützen. Daher akzeptieren sie auch die geltende Maskenpflicht in Läden. Und sie wollen nicht in den gleichen Topf geworfen werden mit den erklärten Maskengegnern.
Die Corona-Verordnung lässt in § 3 Absatz 2 Ausnahmen zu,
– wenn dies aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist,
– wenn es behinderungsbedingt nicht möglich ist.
Als Nachweis gilt der Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest. Eigentlich. Bei uns steht das Telefon nicht still. Andere Betroffene, die vor der Türe des Ladens abgewiesen werden, schreiben E-Mails. Am Donnerstag hat die „Stuttgarter Zeitung“ und die „Südwest Presse“ erneut.

Spießrutenlauf beim Einkaufen

Emotionen kochen hoch. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung oder eines anderen zwingenden Grund keine Maske tragen können, werden noch mehr ausgegrenzt, diskriminiert, verletzt, verstoßen, ihre Würde mit Füßen getreten. Das macht uns betroffen, wütend und traurig. Von Inklusion redet niemand mehr. Und auch nicht von der Bereitschaft, seinem Nächsten zu helfen, einfach so. Jeder Versuch, mal wieder die eigene Wohnung zu verlassen, selbst einzukaufen, wird zum Spießrutenlauf. „An den Pranger gestellt“ – ohne die Regeln verletzt zu haben.

Aber der Einzelhandel missachtet die Vorgaben und macht es sich einfach, rechtfertigt sich damit, dass man uns vor anderen Kunden schützen muss. Aber wer schützt uns vor diesem übergriffen Verhalten? Warum gibt es nicht Plakate am Eingang, die auf die Ausnahmen hinweisen? Warum werden wir Menschen mit Behinderung allein gelassen? Inklusion? Fehlanzeige!

„Wir müssen leider draußen bleiben.“

Ein Ehepaar (71/69), das aufgrund chronischer Erkrankungen von der Maskenpflicht nachweislich mit Attest befreit ist, kam mit dem Großeinkauf bis zur Kasse und wurde dort mit den Worten empfangen: „Ich darf Sie nicht abkassieren. Mein Chef sagte, dass ohne Maske nichts läuft.“ Und dann wurde auch noch die ärztliche Atteste weiteren Mitarbeitern gezeigt, so das Ehepaar. Nach einer unschönen Debatte durfte das Ehepaar dann „ausnahmsweise“ die Einkäufe bezahlen und den Laden verlassen. Solche und ähnliche Erlebnisse hören wir ständig.
Anscheinend sind wir Menschen mit Behinderungen und deren Familienangehörige Kundinnen und Kunden zweiter oder dritter Klasse. Aber wir sind viele wie der Blick in die Statistik zeigt. Und wir merken uns genau, wer uns im Handel willkommen heißt und wer nicht. So kaufen wir online ein (so der Shop barrierefrei ist) oder in den Läden, in denen den Kunden – unabhängig vom Geldbeutel, der Herkunft, dem Geschlecht – mit Respekt begegnet wird.

„Gibt es für uns keine „Lernbrücke“?

Das Kultusministerium bietet in den Sommerferien ein Lern- und Förderprogramm „Lernbrücken“ an. Da in den Wochen der Schulschließung nicht alle Schüler gleichermaßen mit „Home-Scooling“ erreicht werden konnten, haben insbesondere leistungsschwächere Schüler einen Nachholbedarf. Deshalb soll es in den Sommerferien freiwillig Lernangebote geben, um den Unterrichtsstoff nachzuholen. Zwei Wochen sollen daher „Lernbrücken“ gebaut werden: Die Zielgruppe wird wie folgt beschrieben: „Das Programm richtet sich schwerpunktmäßig an Schülerinnen und Schüler der Grundschulen, der Sekundarstufe I der weiterführenden Schulen, der Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotionale und soziale Entwicklung) sowie der Berufsfachschulen, Berufskollegs, Beruflichen Gymnasien, die aufgrund der Schulschließungen seit Mitte März 2020 schwerer als andere erreicht werden konnten oder aus organisatorischen Gründen auch länger als andere Schülergruppen nur von zu Hause aus lernen konnten.“

„… auch wir haben ein Recht auf Bildung!“

Völlig konsterniert meldeten sich bei uns Eltern, deren Kinder mit Behinderung ein SBBZ mit den Schwerpunkten körperliche und motorische Entwicklung oder geistige Entwicklung besuchen. „Warum sollen unsere Kinder ausgeschlossen werden?“ „Das ist doch eine Form von Diskriminierung.“ „Unsere Kinder hatten es doch besonders schwer in der Krise. Angebote erreichte sie nicht immer. Nicht in allen Familien konnten die Kinder so gefördert werden wie sie es aufgrund ihres Förderbedarfs benötigt hatten.“ „Haben unsere Kinder nicht auch das gleiche Recht auf Bildung wie alle anderen auch?“

Zugegeben, eine „Lernbrücke“ für die Kinder mit schweren und mehrfachen Behinderungen zu bauen, ist organisatorisch eine größere Herausforderung als für andere Schülergruppen. Da geht es auch um Fragen der Schülerbeförderung, Hygienekonzepte, Pflege, und, und, und …. aber brauchen wir nicht in Zeiten wie diese auch kreative Lösungen, die eben noch nicht im Standardnachschlagewerk abgedruckt sind.

Unser Appell:
Lasst uns gemeinsam nach Wegen suchen und „Lernbrücken“ für alle bauen!

Unerhört, unsichtbar … wie lange noch?

Corona lässt uns nicht los. Das Virus hat uns – allen Lockerungen zum Trotz – noch voll im Griff. Wie lange noch?

Wie lange geht das alles noch? Wann kann mein Kind, das in einem Wohnheim lebt, das Wochenende endlich wieder bei uns Eltern daheim verbringen?

„Wir erfahren am eigenen Leibe Diskriminierungen“, schreibt eine Mutter. Die Tochter ist Autistin – und sie hat eine Befreiung von der sog. Maskenpflicht, dem Tragen eines einfachen Mund-Nasen-Schutzes. Ein großes Einrichtungshaus hat die Familie mit dem Kind ohne Maske nicht reingelassen. Im Urlaub war es eine öffentliche Kultureinrichtungen. Die Familie wehrt sich, schreibt nette Mails, stellt Sachverhalte klar. Die Mutter endet ihr Schreiben an uns mit dem Satz: „Wir haben Angst, dass wir bald in keine Einrichtung – ob privat oder öffentlich – hineinkommen. Schlimm, dass wir alle das miterleben müssen.“

Wie lange noch? Wie wägt man richtig ab zwischen Infektionsschutz und Isolation? Diese Woche sagte ein Mann im Rollstuhl zu mir: „An Ostern waren wir noch alle gleich. Alle – Menschen mit und ohne Behinderung – waren zuhause, hielten Abstand, hatten Kontakte nur übers Telefon, Internet oder Balkon. Und jetzt? Jetzt sind wir Menschen mit Behinderungen sowie alte pflegebedürftige Menschen diejenigen, die möglichst nicht raus sollen. Jetzt sind wir es noch allein, die immer noch ziemlich ausgegrenzt sind. Unerhört, unsichtbar … wie lange noch?“

„Risikogruppe“ allein zuhause … wie lange noch?

Nach drei Monaten Corona-Krise und dem Leben im Ausnahmezustand sehnen wir uns alle nach mehr Normalität im Alltag. Die Landesregierung hat weitere Lockerungen in den unzähligen Corona-Verordnungen beschlossen. Den sonnigen Brückentag am Freitag nutzten viele Menschen, um nicht nur mit Personen aus dem eigenen Haushalt in der Stadt oder in den Parks unterwegs zu sein. Doch was ist mit all denen, denen man zu Beginn der Corona-Krise den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat?

Der Stempel „Risikogruppe“ tut weh. Das berichten mir viele Menschen mit Behinderungen (und deren Familienangehörige), denen man – ungefragt – den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat. Niemand von uns will als Risiko für sich und andere sein. Risiko bedeutet bei uns Gefahr oder Nachteil für sich und andere. Zunächst galten alte Menschen und Menschen mit Behinderungen pauschal zur „Risikogruppe“. Inzwischen differenziert das Robert-Koch-Institut dies und verweist auf ein höheres Risiko z.B. für Menschen mit geschwächter Immunität. Doch was heißt das für den Alltag?

Die „Risikogruppe“ blieb allein zuhause oder in Wohneinrichtungen. Soziale Kontakte fanden nur virtuell statt (vorausgesetzt, dass es technisch ging und die Menschen damit auch umgehen konnten). Einige Eltern berichteten mir, dass selbst die Gratulation zum Geburtstag des Sohnes nur aus der Ferne möglich war. Die Eltern standen vor dem Wohnheim, das Geburtstagskind auf dem Balkon im 1. Obergeschoss. Da fehlt die Umarmung, das liebevolle gedrückt-werden. Das tut weh.

Immer mehr fragen uns an, wie lange das noch dauert. Ich weiß es nicht. Wie schaffen wir Nähe? Viele Menschen mit schweren Behinderungen verstehen einfach nicht, weshalb die Eltern, Freunde nur auf Abstand da sind. Ich werde oft gefragt, wann man denn endlich wieder selber entscheiden darf, was einem gut tut und was nicht. Auch darauf habe ich keine Antwort. Wir alle wollen gesund sein und bleiben. Aber zur Gesundheit gehört auch eine gesunde Seele. Und wir Menschen sind soziale Wesen, die andere Menschen und die Nähe zu ihnen brauchen. Immer mehr Stimmen werden laut, die auf die Gefahr hinweisen, dass alte und / oder behinderte Menschen aufgrund der sozialen Isolation der letzten Monate länger als andere leiden können. Diese Frage beschäftigt uns sehr – und doch haben wir darauf auch keine verbindliche Antwort.

Die Chinesen haben für die Worte „Risiko“ und „Chance“ das gleiche Schriftzeichen. Nehmen wir uns ein Beispiel daran. Wir hoffen, dass aus dem Risiko eine Chance wird, die niemand ausgrenzt.

„Ja“ zur Maskenpflicht und den notwendigen Ausnahmen

Gesundheit ist ein hohes Gut. Das sagen derzeit alle. Für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien ist das aber keine Floskel, sondern die Grundlage für das Leben überhaupt. Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte … das alles bestimmt den ganz normalen Alltag über Jahre und Jahrzehnte.

Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus
Eine Frau mit Behinderung beschrieb in einer E-Mail an mich ihre Ängste: „Viren haben meine Nerven zerstört und mir die Lähmungen beschert. D.h., ich bin grundsätzlich ängstlich, was Viren ausgelöste Krankheiten anbetrifft. Ich halte mich aus dem Grund dem öffentlichen Leben momentan wirklich fern, so gut es geht. Das fällt mir nicht leicht, aber sowohl ich wie auch mein Mann gehören zur Risikogruppe. Ich weiß nicht, ob ich eine Corona-Infektion überleben würde. Deshalb fühle ich mich viel sicherer, wenn sowohl ich als auch meine Mitmenschen, die es können, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Nur so kann ich überhaupt Krankengymnastik machen. Wir haben beide eine FFP 2 Maske an. (…) Ich möchte an alle appellieren, eine Maske zu tragen. Es ist für Leute wie mich wirklich sicherer. Meine Ärztin hat mir ein anderes Attest einfach telefonisch ausgestellt, eben dass ich zur Risikogruppe gehöre. Auch nicht hübsch ,aber es ist halt so. Deshalb die Bitte, auch uns Gefährdete miteinzubeziehen. Ansonsten hocke ich für die nächsten ein bis zwei Jahre daheim fest!“

Wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht …

… ohne Wenn und Aber. Täglich erreichen uns seit Einführung der Maskenpflicht (einfacher Mund-Nasen-Schutz) verzweifelte Rückmeldungen von Menschen mit Behinderungen und Angehörigen, denen man den Zugang zu Läden verweigert, wenn sie keine Maske tragen. Sie haben den Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest dabei. Das interessiert vor Ort niemand. Es kommt auch vor, dass andere Kunden die Menschen mit Behinderungen angehen und beleidigen. Das ist eine Diskriminierung. Und das ist schlicht nicht akzeptabel. Am Freitag hat die Deutsche Presseagentur (dpa) in einem Bericht auch auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Die Beratungsstellen gegen Diskriminierung rufen zu mehr Verständnis für Menschen auf, die aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen keine Maske tragen können.

Auch wir fordern nachdrücklich, mehr über die Ausnahmen von der Maskenpflicht zu informieren. Deshalb haben wir uns wiederholt an die Landesregierung gewandt und um Klarstellung gebeten. Vor Pfingsten haben wir in einer Mail an die Covid-19-Lenkungsgruppe der Landesregierung auf die Dringlichkeit hingewiesen – und wurden vom Staatsministerium auf die Zuständigkeit des Ministeriums für Soziales und Integration verwiesen. Die Landesbehindertenbeauftragte unterstützt unser Anliegen.

Und – um das hier auch klar zu sagen – wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht und „nein“ zu den sog. „Maskenverweigerern“.

„Gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Ich habe Angst, dass ich meinen Arbeitsplatz verliere.“ Dies sagte mir diese Woche eine Frau im Rollstuhl. Sie lebt in einer gemeinschaftlichen Wohnform und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). „Ich arbeite am Computer. Und jetzt kehren die ersten Beschäftigten wieder in die WfbM zurück – aber nur die, die mit Bus oder Bahn selber zur Werkstatt kommen können. Und ich muss noch in der Wohngruppe bleiben, weil ich einen Sonderfahrdienst brauche. Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Arbeit ist für Menschen mit Behinderung mehr als Broterwerb.
Arbeit bedeutet auch:
– Tagesstruktur im Alltag
– Anerkennung für das, was man tut
– Soziale Kontakte

Die Arbeit fehlt. Zunächst fühlte sich alles nach Urlaub an. Aber jetzt sind die Werkstätten schon über zwei Monate geschlossen. Nur wenige sind inzwischen zurück. Und es fällt schwer, zu verstehen, warum Kollege A schon wieder arbeiten darf und man selbst noch nicht. Klar, es geht um den Schutz der Gesundheit. Und wir alle wollen gesund bleiben.

Es ist nicht einfach, die Corona-Verordnungen zu verstehen. Wir müssen erklären, warum wer schon wieder zurück in die Werkstatt darf und warum andere das noch nicht dürfen. Wir im LVKM machen dies so gut wir können. Einfach ist es nicht. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass das Abstand halten im Kleinbus schwieriger ist als in der Stadtbahn oder im großen Bus. Die Regeln müssen verständlich sein – für alle.

„Nur weil ich im Rollstuhl sitze und nicht allein mit dem großen Bus fahren kann, muss ich daheim bleiben. Das ist gemein. Ich versteh‘ das nicht“, sagt die Frau am Telefon. Sie ist einsam, traurig und wütend. „Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch? Oder macht es dann jemand anderes? Und was wird dann mit mir? Was mache ich?“ Ganz ehrlich: ich weiß es nicht. Für die Anruferin war es nur ein kleiner Trost, dass ich ihr sagte, dass sie auf jeden Fall weiter in der Werkstatt arbeiten kann. Als Werkstattbeschäftigte kann sie nicht gekündigt werden.

Die Werkstatträte Baden-Württemberg machen ihren Kollegen Mut. Sie erklären in einem offenen Brief, wie es weitergehen kann. Sie finden den Brief unter https://www.wr-ba-wue.de/dokumente/upload/15512_Liebe_Kolleginnen_und_Kollegen.pdf