… wenn eine „Toilette für alle“ erst einen Familienausflug möglich macht …

Jeden Freitag verschicken wir unseren lvkm-Newsletter mit Informationen rund um das Leben mit Behinderung. In der Ausgabe Nr. 22/2024 vom 14. Juni 2024 berichteten wir über die „Toilette für alle“ im Strandbad Mettnau in Radolfzell am Bodensee. Barrierefreiheit und Inklusion sei im Strandbad Mettnau normal, denn längst gebe es dort bereits einen Strandrollstuhl zum Ausleihen. Seit einiger Zeit stehe nun auch eine „Toilette für alle“ zur Verfügung. Gemeinsam mit Stadtrat Jürgen Keck und Vertretern der Stadtverwaltung habe die LVKM-Geschäftsführerin das Serviceangebot gecheckt. Das Strandbad Mettnau sei das einzige Bad rund um den Bodensee mit einer „Toilette für alle“.“

Ein paar Tage darauf erreichte uns eine begeisterte Mail einer Familie, die ich hier gerne weitergebe.

„Ihr Newsletter ist für mich immer wie ein kleines Schatzkästchen, eine Fundgrube interessanter Themen und links, und spannender Informationen. Der Newsletter 22 enthielt eine für mich sehr interessante Information – nämlich Ihre Info über die neue „Toilette für alle“ im Strandbad Mettnau, Radolfzell. Wir wohnen ja hier in Ravensburg in guter Bodenseenähe, sind häufig am Bodensee, normalerweise aber eher am Ufer zwischen Meersburg und Bregenz. (Die „Toilette für alle“ am Cap Rotach kennen wir schon, ebenso die auf der Insel Mainau.)

Nun gab uns gestern Ihr Hinweis aufs super für uns ausgestattete Strandbad Mettnau die entsprechende Motivation, unseren bald 22-jährigen Sohn, sein großes Rollstuhltransportfahrrad und das ganze Tagesgepäck in unseren Bus einzuladen und Richtung Radolfzell zu fahren.

Wir haben Schönes miteinander verbunden
• eine Radtour in den T-Shirts vom „Toleranzlauf“ Ravensburg.
• Km-Sammeln fürs „STADTRADELN Ravensburg“ – an dem wir für unser kleines Team „Radeln für PallikJUR“ Fahrrad fahren (der ambulante Kinder- und Jugendpalliativdienst der Uni Ulm, mit Zweigstelle in Ravensburg betreut unseren Sohn seit Jahren in seinen wiederholten gesundheitlichen Krisen (schwere Lungenentzündungen) zuhause, und hilft uns, Klinikaufenthalte zu vermeiden.)
• ein paar schöne Stunden im schönen Strandbad mit gutem Essen im Strandbad-Restaurant mit schönstem Bodenseeblick

und – ganz wichtig –

Wir konnten unseren Sohn in dem super ausgestatteten und sehr geräumigen „Toilette für alle“-Container wickeln, was wirklich super war. Normalerweise stehen wir immer nach 3 – 4 Stunden unter Zeitdruck, um unseren Sohn diesbezüglich mit neuem Inkontinenzmaterial zu versorgen. D.h., zumeist planen wir dann die Ausflüge eher kurz, so dass wir dann die nächste „Versorgungs-Wickelrunde“ wieder zuhause durchführen können.

Dank der „Toilette für alle“ konnten wir nun entspannt und problemlos einen Tagesausflug machen.“

Wenn Sie die Info nicht über Ihren LVKM-Newsletter herausgegeben hätten, hätte es bestimmt gedauert, bis ich das Strandbad Mettnau und Umgebung als neues „machbares“ Ausflugsziel mit unserem Sohn für uns entdeckt hätte.“


Selbsthilfe wirkt – und eine „Toilette für alle“ ist Teilhabe am Leben. Inklusion kann so einfach sein …

„Tag der Vielfalt“ am 28. Mai 2024

„Inklusion in der Arbeitswelt geht: man muss es nur wollen“

Jeder Mensch hat Talente. Menschen mit Behinderungen sind hoch motiviert, ihren Platz in der Arbeitswelt zu finden und auszufüllen. Entscheidend ist, dass Arbeitgeber Menschen mit Behinderungen eine Chance geben und bestehende kleine und großen Barrieren abbauen. Leider ist die Landesregierung Baden-Württemberg hier alles andere als vorbildlich unterwegs. Mitte Mai hat die Landesregierung im Sozialausschuss des Landtags den Bericht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen für das Jahr 2022 vorgestellt. Demnach lag die errechnete Beschäftigungsquote in der Landesverwaltung im Jahresdurchschnitt bei 3,99 Prozent. Nur zur Erinnerung: die Pflichtquote liegt bei 5 Prozent, die Betriebe ab 20 Beschäftigte erfüllen müssen.

Unser Landesverband hat weniger als 20 Beschäftigte und ist daher von der Beschäftigungsquote befreit. Umso mehr freuen wir uns, dass wir eine Beschäftigungsquote von 25 Prozent erfüllen. Wir zeigen jeden Tag, dass Inklusion in der Arbeitswelt möglich ist. Man muss es nur wollen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Heute feiert unser Grundgesetz Geburtstag. 75 Jahre ist unsere Verfassung alt – und so aktuell wie eh und je. Ein Grund für uns alle, die Demokratie zu feiern. Die zentralen Werte sind in den Artikeln 1 bis 19 verankert – und von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ heißt es zentral im Artikel 1. Artikel 3 garantiert die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ kam durch eine Änderung des Grundgesetzes im November 1994 dazu – und hat inzwischen auch schon 30 Jahre auf dem Buckel.
Im Alltag vergessen wir manchmal, welch ein Schatz unser Grundgesetz ist. Es bietet uns aber eine verlässliche Grundlage für das Zusammenleben, zeigt Leitplanken auf, gibt die Richtung für unser Zusammenleben vor.

Auch das ist Menschenwürde: mit Unterstützter Kommunikation sprechen


Vor kurzem sprach ich mit der Mutter eines jungen Mannes mit Behinderung, der in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM) arbeitet. Wir sprachen über Unterstützte Kommunikation und die Hilfsmittel wie Talker, die es inzwischen gibt. Die Kommunikation mit Hilfe der Talker gibt Menschen eine Sprache und ermöglicht Teilhabe. Und Menschenwürde. Doch über die Finanzierung wird immer wieder gestritten. Das belastet die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sehr. Die Mutter: „Den Menschen klaut man die Sprache, wenn man den Talker in der Werkstatt, im Wohnbereich oder in der Freizeit nicht nutzen kann.“ Feiern wir also unser Grundgesetz und wünschen ihm auch für die Zukunft nur das Beste, denn: „die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Bundesgerichtshof setzt klares Zeichen für mehr Barrierefreiheit

mehrstockige Wohnhäuser; im Hintergrund ist die Stadt zu erkennen.
Häuserzeile mit mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshäuser in einer Stadt
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Der Bundesgerichtshof (BGH) sagt „Ja“ zum nachträglichen Einbau eines Außenaufzuges am Hinterhaus eines denkmalgeschützten Altbaus in München sowie eine Rampe zur Terrasse einer Wohnanlage in Bonn. Mit diesen zwei Entscheidungen (Az: V ZR 244/22 und V ZR 33/23) setzt der BGH ein klares Zeichen für mehr Barrierefreiheit beim Wohnen. Ein echter Meilenstein, den es zu feiern gilt!

Vorfahrt für Barrierefreiheit

Die Richter verwiesen auf eine Reform des Wohnungseigentumsrechts vor wenigen Jahren. Danach kann jeder Wohnungseigentümer (auf eigene Kosten) angemessene bauliche Veränderungen verlangen, die Menschen mit Behinderungen helfen, eine Wohnung entsprechend nutzen zu können. Mit der Reform sollte es Menschen mit Behinderungen leichter haben, eine vorhandene Wohnung bzw. der Zugang zu selbiger barrierefreier zu gestalten. Der Gesetzgeber wollte, dass Miteigentümer dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht verhindern können. Aufgabe der Gerichte es sei, den Willen des Gesetzgebers umzusetzen.

Wenn ein Stein ins Wasser fällt …

… zieht er Kreise. Die beiden Urteile des BGH wirken weit über die beiden verhandelten Einzelfälle hinaus. Davon bin ich überzeugt. Und das ist gut so. Es geht um Selbstbestimmung. Jede und jeder soll wohnen, wo sie und er es will. Da ist das alt gewordene Ehepaar, das seit den 1980er Jahren in einem Hochhaus mit Aufzug wohnt – aber von der Haustür zum Aufzug sind sieben Stufen zu überwinden. Und aufgrund eines Schlaganfalls ist ein Ehepartner auf einen Rollstuhl angewiesen – und kann die Wohnung nicht mehr alleine verlassen. Sieben Stufen sind einfach sieben Stufen zu viel. Oder die junge Frau, die als Folge eines schweren Unfalls gelähmt ist und nach dem Krankenhausaufenthalt nicht mehr in ihre Wohnung in der dritten Etage – ohne Aufzug – zurückkann. Umziehen? Nahezu aussichtslos, denn barrierefreie Wohnungen sind fast so selten wie der berühmte Sechser im Lotto.

Mögen die beiden Urteile des BGH endlich ein Umdenken bewirken! Wir brauchen den Abbau von Barrieren bei bestehenden Wohnungen. Wer meint, den Bedarf an barrierefreien Wohnungen nur durch neugebaute Wohnungen zu decken, irrt. Die Nachfrage steigt täglich – allein durch die Babyboomer, die bald in Rente gehen. Der BGH hat ein klares Zeichen gesetzt – und da gibt es kein Zurück!

Die Entscheidungen des BGH sind nachzulesen unter https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/2024026.html;jsessionid=84A5A7C5A0528D94DBBFE025E4D75B45.internet012?nn=10690868

„Triage“ – Entscheidung über Leben und Tod

Endlich! Wir sind erleichtert! Heute hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss zur „Triage“ veröffentlicht und den Verfassungsbeschwerden der Menschen mit Behinderungen stattgegeben: „Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen.“

Der Begriff „Triage“ stammt aus der Militärmedizin aus Napoleons Zeiten. Das ist jetzt über 200 Jahre her. Im Kern geht es im Kriegs- oder Katastrophenfall abzuwägen, wer bei knappen Ressourcen die besten Aussichten auf Überleben hat. Und mit jeder neuen Welle in der Coronakrise füllen sich die Intensivstationen der Kliniken – und jeden Tag wächst die Angst behinderter Menschen, im Falle eines Falles nicht die notwendige Hilfe zu erhalten – weil kein Bett auf der Intensivstation für sie frei ist oder weil der letzte Beatmungsschlauch bereits vergeben ist. Angst fressen Seele auf … was wäre, wenn man im Fall der Fälle das Recht auf Leben abgesprochen bekäme aufgrund der eigenen Behinderung? Eine zweite Chance auf Leben gibt es nicht …

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Das Bundesverfassungsgericht hat es sich nicht einfach gemacht und gründlich recherchiert. Und die Sorgen und Ängste der Menschen mit Behinderungen ernst genommen und geteilt. Allen Beteuerungen und Leitlinien zum Trotz besteht ein Risiko, in einer Situation knapper Ressourcen im Gesundheitswesen aufgrund der Behinderung benachteiligt zu werden. Das wäre ein klarer Verstoß gegen Artikel 3 Satz 3 Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

„Behindert oder nicht behindert: jedes Leben ist gleich viel wert.“

Seit Monaten haben Menschen mit Behinderungen Angst, in der aktuellen Coronakrise ins Krankenhaus zu müssen – und womöglich aufgrund fehlender Ressourcen von dringend notwendiger Hilfe ausgeschlossen zu werden. Ich kann diese Angst, die durch den ganzen Körper kriecht, nachfühlen. Es ist dieses Gefühl der Ohnmacht, sich nicht schützen zu können. Ausgeliefert zu sein … Das hat das Bundesverfassungsgericht klar erkannt und einen wirksamen Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen gefordert und auf Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen. Recht hat das Gericht!

Der Gesetzgeber muss handeln. Unverzüglich! Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Schutz ihres Lebens – wie alle anderen auch!

Mehr dazu unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-109.html

Barrierefreies Wählen – einfach machen!

Noch gut fünf Wochen bis zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Die Wahlbenachrichtigungen sind verschickt. Für viele Menschen mit Behinderungen ist es selbstverständlich, wählen zu gehen. Mitbestimmung ist für sie keine Nebensächlichkeit. Das Recht, wählen zu dürfen, haben sie sich gemeinsam mit den Selbsthilfeverbänden hart erkämpft. Keine Spur von Wahlmüdigkeit – im Gegenteil.

Demokratie braucht Inklusion!“

„Demokratie braucht Inklusion“, sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Stimmt. Der Bundeswahlleiter weist vor der Bundestagswahl darauf hin, wie wichtig der barrierefreie Zugang zum Wahlraum besonders für Wahlberechtigte mit Mobilitätseinschränkung ist. Seine Stimme per Briefwahl abzugeben ist – gefühlt – nicht das Gleiche wie die Stimmabgabe im Wahlraum. Demokratie wird auf ganz besondere Weise erlebbar, wenn man als Wahlberechtigte den ausgefüllten Stimmzettel im Wahlraum in die Urne einwirft. Es fühlt sich gut und richtig an.

„Ihr Wahlraum ist nicht rollstuhlgerecht.“

Sven Fichtner ist in Stuttgart Mitglied im Beirat für Menschen mit Behinderung. Die Wahlbenachrichtigung, die er vor einigen Tagen per Post erhielt, weist darauf hin, dass der Wahlraum nicht barrierefrei ist. Was also tun, wenn er als Bürger im Rollstuhl seine Stimme im Wahlraum abgeben will? Er will sich nicht damit abgeben, „dass das halt so ist. Der Aktivist hat eine Erklärung verfasst, in den sozialen Medien veröffentlicht sowie an die Stadtverwaltung Stuttgart, den städtischen Beirat für Menschen mit Behinderungen sowie an uns geschickt. Seine Erklärung im Wortlaut:

„Jeder wahlberechtigte Mensch in unserer Stadt muss seine Stimme in Wahllokalen abgeben können.
Es ist eine tiefe Verletzung unserer Menschenrechte, wenn wir wegen fehlender Barrierefreiheit nicht an Wahlen in einem Wahllokal teilnehmen können. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade.
Wir fordern dieses Menschenrecht ein und wollen von der Politik Lösungen sehen. Viele von uns deren Behinderung angeboren ist, haben noch nie in ihrem Leben in einem Wahllokal an Wahlen teilgenommen. Für manche ist die Teilnahme an der Wahl per Briefwahl eine Wahlmöglichkeit die andere gar nicht haben, sie haben gar keine andere Möglichkeit und somit keine Wahl.
Die Teilhabe am politischen Leben ist schon in dieser Form in der wir laut Gesetz endlich mit der Abgabe unserer Stimme an unserer Demokratie teilnehmen können massiv beeinträchtigt und ist für uns eine nicht länger hinnehmbare Verletzung unserer Menschenrechte, denn die bisherige Möglichkeit an der Teilnahme von Wahlen in Stuttgart  entspricht nicht der UN – Behindertenrechtskonvention, hier ist die fehlende bauliche Barrierefreiheit nur eine von vielen Menschenrechtsverletzungen.“

Demokratie lebt vom Mitmachen. Machen wir mit – und gehen wählen. Jede Stimme zählt!

Infos zum barrierefreien Wählen gibt es unter https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021/informationen-waehler/barrierefreies-waehlen.html.

Das Warten hat noch (kein) Ende …

Vor einer Woche fiel in Baden-Württemberg die Priorisierung bei den Coronaschutzimpfungen weg. Und der Impfstoff von Biontech/Pfizer wurde für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen. Die Ständige Impfkommission STIKO) hat am Donnerstag die Impfung vorrangig für Kinder und Jugendliche mit Vorerkrankungen / Behinderungen empfohlen. Und nun?

Die Sommerferien kommen. Verständlich, dass viele Familien nach über einem Jahr der Pandemie wieder unbeschwert einen Urlaub verbringen wollen. Und daher drängen viele auf einen baldigen Impftermin, damit das auch wirklich noch vor dem Sommerurlaub klappt. Die Vorfreude, ohne regelmäßige Corona-Schnelltest ein Restaurant, ein Museum, ein Kino oder ein Schwimmbad besuchen zu können, lockt. Und so berichteten einige Medien bereits über eine von einem Elternbeirat eines Gymnasiums in der Region Stuttgart initiierte Impfaktion. Ein Vater, der niedergelassener Arzt ist, bot den Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums einen Impftermin an und besorgte über seine Praxis den erforderlichen Impfstoff. Die Nachfrage war riesig. Irgendwie verständlich.

Wäre da nicht die Kehrseite. Sollten nicht vorrangig Kindern und Jugendlichen mit Vorerkrankungen und Behinderungen, die einen schweren oder gar tödlichen Verlauf einer Covid19-Erkrankung erleiden könnten, geschützt werden? Sie sind seit über einem Jahr ständig in Sorge, schwer zu erkranken. Wird deren Not und Verzweiflung in unserer Gesellschaft nicht (mehr) wahrgenommen? Und was ist mit den vielen Erwachsenen mit Vorerkrankungen und Behinderungen, die es noch nicht geschafft haben, über das umständliche Buchungsverfahren einen Impftermin zu ergattern? Und die auf der langen Warteliste bei den Hausärzten stehen? Diese Woche sagte eine ältere Frau mit Vorerkrankungen zu mir, dass sie auf der Warteliste ihres Hausarztes die Nummer 582 habe. Sie wisse aber nicht, wann sie ein Impfangebot erhalte. Diese Ungewissheit zerre an den Nerven, doch sei sie froh, wenigstens auf einer Warteliste zu stehen. Da sie nicht im Internet unterwegs sei, wäre das für sie die einzige Chance, überhaupt einen Impftermin zu erhalten. Geduld müsse man da schon mitbringen. Also warte sie eben, denn was anderes bliebe ihr ja auch nicht übrig. Jeden Tag höre ich ähnliche Geschichten. Menschen mit Vorerkrankungen und Behinderungen warten und warten und warten … und die Ärzte mit, die ja gerne ihre Patientinnen und Patienten schützen wollen. Aber es fehlt der Impfstoff. Oder es kommt zu wenig an. Oder eben der nicht geeignete.

Unsere Forderung ist klar: solange der Impfstoff Mangelware ist, brauchen wir eine Priorisierung der vulnerablen Personen. Es geht hier um Werte wie Solidarität, Schutz der Gesundheit und Schutz des Lebens. Es geht um nicht mehr, aber auch nicht um weniger. Hoffentlich hat das Warten bald ein Ende.

Was bedeutet die Coronakrise für pflegende Angehörige behinderter Kinder?

Die Coronakrise hat die Familien hart getroffen. Die Angst, dass sich die Kinder mit schweren Behinderungen mit dem tückischen Virus anstecken könnten. Der Wegfall der Tagesstruktur, der Wegfall der Entlastungsangebote.

Der gut durchstrukturierte Alltag kommt ins Rutschen. Nichts und niemand hält ihn auf. Die ganze Wucht landet – meist – auf dem Rücken der pflegenden Mütter. Rund um die Uhr kümmern sie sich. Unverändert hoch – oder noch höher – ist die Bürokratie. Antrag stellen bei der Eingliederungshilfe, Anträge für Windeln, Therapie, Hilfsmittel. Warten, bis der Bescheid kommt. Oder die Ablehnung.

Zusätzlich kommen noch die sich laufend veränderten Coronaregeln dazu. Was ist zu tun, wenn der Mund-Nasen-Schutz nicht getragen werden kann? Kann mein Kind trotzdem zum Friseur? Wenn die Therapie ausfällt, was bedeutet das? Pflegende Angehörige behinderter Kinder sind am Ende. Der Platz in der Kurzzeiteinrichtung ist gebucht. Aber ob es dann tatsächlich klappt, wissen die Angehörigen erst mit Gewissheit, wenn sie ihr Kind in der Einrichtung den Mitarbeitern dort übergeben. Die Sorge bleibt … Alltag 2021.

Die pflegenden Angehörigen und ihr Alltag ist unsichtbar. Gut, dass die dpa (Deutsche Presseagentur) nun den Blick auf den Alltag pflegenden Müttern gelenkt hat. Lesen Sie selbst unter https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.coronavirus-was-die-pandemie-fuer-menschen-mit-behinderung-heisst.04132f47-8ac1-4089-8ccc-1602e5312965.html

Wurden Menschen mit schweren Behinderungen beim Impfen einfach vergessen?

Eins vorneweg: wir alle gönnen jeder und jedem eine Impfung gegen Covid19. Denn jede Impfung bringt unsere Gesellschaft unserem gewohnten Alltag vor Corona einen Schritt näher. Doch immer mehr Menschen mit schweren Behinderungen fühlen sich bei der Verteilung der Impfberechtigung vergessen, verloren, verlassen. Der Frust steigt. Die Angst, zu erkranken, einen schweren Krankheitsverlauf zu haben und daran zu sterben ist groß. Nachdem inzwischen auch kerngesunde Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerinnen und Lehrer impfberechtigt sind – und auch viele bereits ihren ersten Impftermin hatten – verstehen viele betroffenen Familien die Welt nicht mehr.

„Wie soll unsere 11 monatige Tochter mit Trisonomie 21 uns Eltern die Impfberechtigung erteilen?“

Nun sind zwei enge Kontaktpersonen von impfberechtigten Menschen nach der STIKO Stufe 2 und 3 impfberechtigt. Seit einer Woche gibt es dazu das entsprechende Formular, um die Impfberechtigung nachzuweisen. Doch die Formulierungen machen deutlich, dass hier niemand die Familien mit behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen bedacht hatte. Der impfberechtigte Mensch kann max. zwei enge Kontaktpesonen benennen, die dann impfberechtigt sind. Jetzt rief die Mama einer 11 Monate alten Tochter mit Trisonomie 21 an, wie sie denn den Nachweis jetzt führen solle? Die Tochter könne ihr ja nicht die Bestätigung ausfüllen … Klar, die Eltern eines minderjährigen Kindes sind dessen gesetzliche Vertreter und können sich daher in dieser Rolle die Bescheinigung selbst ausstellen. Aber wie dieser Tatsache im Impfzentrum erklären? Wir raten den Eltern, Stammbuch, ärztliche Atteste, Schreiben der Krankenkassen usw. mitzunehmen. Was für eine Bürokratie …

Ungeklärt ist bislang auch, ob die Eltern behinderter Kinder, die normalerweise in einer besonderen Wohnform leben, aber die Wochenenden und Ferien bei den Eltern zuhause verbringen, impfberechtigt sind. Nach bisheriger Lesart der Corona-Impf-Verordnung und der Auslegung in Baden-Württemberg sind sie es nicht.

Völlig vergessen fühlen sich Menschen mit Behinderungen, die zuhause leben und im sog. Arbeitgebermodell ihre Pflege sicherstellen. Pflegekräfte, die bei einem Pflegedienst angestellt sind, sind impfberechtigt – im Unterschied zu den Pflegekräften, die bei einem Menschen mit Behinderung direkt angestellt sind. Das versteht niemand und lässt die Betroffenen verzweifeln. Am Dienstag meldete sich ein Betroffener bei uns und schilderte seine Not:

„Impftermin erhalten – und zwei Mal im Impfzentrum abgewiesen worden.“

„Ich bin Rollstuhlfahrer und als Säugling an schwerer Kinderlähmung erkrankt. Außerdem binich rund um die Uhr auf ein Atemgerät angewiesen.

Am 12 Januar sollte ich in M. geimpft werden. Am 11 Januar sollte ich nochmal anrufen, um den zweiten Termin festzulegen. Bei diesem Gespräch wurde ich wieder ausgeladen, da ich nicht impfberechtigt sei.

Am 2 März hatte ich erneut einen Impftermin im Impfzentrum in H. Ich war so erleichtert, jetzt endlich geimpft zu werden. Als ich dort ankam, wurden meine Unterlagen geprüft und ich wurde weitergeleitet an eine Ärztin, die mir sagte, dass ich nicht geimpft werde, da ich nicht berechtigt sei mit dem Impfstoff von Biotech geimpft zu werden. Ich zeigte ihr die Bestätigung aus der implizit drin stand, dass ich am 02.03.21 um 11.39 Uhr mit dem „Gebuchter Impfstoff: Corona-Impfstoff – Comirnaty (BioNTech)“ geimpft werden soll. Das interessiert sie nicht. Ich hätte gar nicht vom Callcenter die Bewilligung erhalten dürfen und ihr ist das Problem bekannt, aber sie dürfe mich nicht mit dem (BioNTech) impfen. Als ich das von ihr so kalt ins Gesicht geschleudert bekam, war es für mich als habe sie mir soeben mein Todesurteil ausgesprochen.

Ich sagte ihr das auch und bat sie mir dann eben den Impfstoff von AstraZeneca zu geben, damit ich mich jetzt nicht umsonst dem Risiko ausgesetzt habe, mich anzustecken. Denn ich lebe jetzt schon fast ein Jahr in Quarantäne und eben weil ich weiß, dass – wenn ich mich anstecke – dies mein Todesurteil bedeutet. Darauf entgegnete sie mir, sie hätten hier überhaupt kein Impfstoff von AstraZeneca. Ich merkte wie ich – trotz Beatmung – keine Luft mehr bekam und eine unsagbare Wut und Ohnmacht brach sich bahn.

Mein ganzes Leben – 61 Jahre lang – habe ich um meine Daseinsberechtigung und Eigenständigkeit gekämpft und viele Kämpfe ausgetragen und hier scheiterte ich. Ich habe das Impfzentrum als gebrochener Mann verlassen und den Glauben an unseren Staat, dem ich soviel zu verdanken habe, verloren. Bitte helfen Sie mir, ich weiß nicht mehr weiter!“

Das große Rennen: wer wird zuerst geimpft?

Die Antwort: Eltern schwerstbehinderter Kinder müssen noch immer warten bis sie an der Reihe sind, Mitarbeitende in Kitas und Schulen sind vorrangig dran.

Im Dezember 2020 atmeten wir alle auf. Erinnern Sie sich? Erste Impfstoffe wurden zugelassen und uns einte die Hoffnung, die Coronakrise schneller als erwartet hinter uns zu lassen.

Und unsere Gesellschaft einte der Grundsatz, dass die besonders vulnerablen Personen vorrangig geschützt werden müssen. Wir haben gelernt, dass vulnerabel – also besonders gefährdet – vor allem hochbetagte Menschen sind, die in Pflegeheimen leben. Doch auch Menschen mit geistiger Behinderung, mit mehrfachen Vorerkrankungen sind besonders gefährdet. Bei einer Erkrankung laufen sie Gefahr, einen schwerwiegenden oder gar tödlichen Verlauf zu erleiden. Im Bewusstsein, dass – zumindest am Anfang – nicht ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung stehen wird, hat die Ständige Impfkommission (Stiko) auf wissenschaftlicher Basis Empfehlungen erarbeitet, wer vorrangig geimpft werden soll. Diese Erkenntnisse finden sich in der Corona-Impf-Verordnung des Bundes wieder. Und viele Menschen mit schweren Behinderungen und deren Familien haben akzeptiert, dass es noch gefährdetere Menschen gibt und sie daher noch warten müssen, bis sie an der Reihe sind und die Impfung für „Personen mit hoher Priorität“ startet.

Am Wochenende hat dann Baden-Württembergs Landessozialminister über die Medien bekannt gegeben, dass ab sofort alle Erzieherinnen und Erzieher sowie alle Lehrerinnen und Lehrer impfberechtigt seien und vorgezogen werden. Seit Montag steht bei uns das Telefon nicht still. Mails von Eltern schwerstbehinderter Kindern erreichen uns, weil sie noch nicht an der Reihe sind.

Eine Mutter schreibt: „Meine Tochter ist schwer mehrfachbehindert und hat einen Pflegegrad 5. Eine überregionale Fachklinik hat ihr ein Attest ausgestellt, dass sie zur Personengruppe der Priorität I zählt. Sie bekam im Impfzentrum keine Impfung. Wir wurden weggeschickt mit der Begründung, dass kein Arzt über die Priorisierung entscheiden kann. Wir sollen warten bis wir dran sind.“

Und eine andere Mutter schreibt: „Mehr Menschen in Baden-Württemberg bekommen ein Impfangebot, u.a. Tätige in der ambulanten oder stationären Versorgung von Personen mit Demenz oder geistiger Behinderung. Ich nehme mal an, dass der Personenkreis der häuslich Pflegenden – also wir pflegenden Eltern – damit mal wieder nicht gemeint ist. Wir sollen wohl weiter warten.“

Oder: „Seit fast einem Jahr sind wir auf uns allein gestellt. Wir pflegen und versorgen unser schwerstbehindertes Kind rund um die Uhr zuhause. Und jetzt haben wir immer noch nicht eine Chance auf eine Impfung. Wir erhalten keinen Impftermin, weil wir nicht impfberechtigt seien. Nur Lehrer und Erzieher werden jetzt vorgezogen. Wir verstehen die Welt nicht mehr.“

Oder: „Eltern eines schwerstbehinderten, Tag und Nacht beatmeten Kindes wurden trotz Termin in Mannheim ohne Impfung wieder nach Hause geschickt. Und warum? Sie konnten den „verlangten Nachweis ihres Arbeitgebers“ nicht vorlegen. Klar – Eltern sind in diesem Fall auf Grund dessen Eltern, weil sie ein „besonderes“ Kind haben, das quasi der Arbeitgeber ist. Dieses Vorgehen verstehe wer will … ich und viele, die „sich auskennen“, verstehen das ebenfalls nicht.“

Ich gönne allen eine Impfung gegen Covid19. Aber dass schwerstbehinderte Menschen, die zu den besonders vulnerablen Personen (und daher besonders zu schützen sind) zählen und ihre Eltern als engste Kontaktpersonen noch nicht mit Impfen dran sind, das verstehe wer will. Ich nicht. Und langsam weiß ich nicht mehr, wie ich verzweifelte Eltern trösten kann. Sie sorgen sich um das Leben ihrer Kinder und brauchen eine Perspektive!