Archiv 2024

Vorsicht, Schienen-Ersatz-Verkehr!

Über Zugverspätungen reden viele – und ärgern sich. SEV toppt das Ganze. SEV steht für „Schienen-Ersatz-Verkehr“. Seit ein paar Tagen ist die Strecke zwischen Baden-Baden und Rastatt auf der vielbefahrenen Rheinstrecke gesperrt. Busse sollen die Reisenden – teils mit viel Gepäck – stattdessen befördern. „Gedränge, Unmut, Chaos am Bahnhof Baden-Baden: Bahn bittet Stadt um Hilfe“ heißt es in den SWR-Nachrichten am 13. August 2024. Und weiter heißt es im Bericht: „Kaum hielt ein ICE im Bahnhof, drängten sich etliche Hundert Reisende auf die Bahnsteige – mit Koffern, Kindern, Rollatoren, Fahrrädern und Rollstühlen. Kofferbänder an den Treppen gibt es schon lange nicht mehr. Es war ein Geschiebe und Gezerre.“

… beim SEV schon mal von Anfang an an Menschen im Rollstuhl gedacht?

Noch sind viel zu wenige Menschen mit Behinderungen in regulärer Beschäftigung, trotz „Fachkräftemangels“. Wie sollte ein Pendler im Rollstuhl als ÖPNV-Nutzer über die wochenlangen Sperr-Pausen kommen, wenn das schon für „die anderen“ wegen deutlich verlängerter Wegezeiten und / oder Umwege schwierig wird? Selber schuld, wenn man ausgebremst wird? Nein! Mobilität ist ein Grundbedürfnis aller Menschen!

Ein in der Selbsthilfe ehrenamtlich Tätiger, selbst auf den Rollstuhl angewiesen, sagt: „Ich rege schon seit Jahren an, dass Barrierefreiheit von Anfang mitgedacht, mitgeplant und umgesetzt werden an.“Ein nicht barrierefreier SEV schließt Menschen von ihrem Grundrecht auf Mobilität aus. Da gibt es nichts zu beschönigen. Barrierefreiheit ist keine Freiwilligkeitsleistung, die man macht, wenn man gerade zufällig dran denkt, Lust drauf hat oder noch Geld übrig … Barrierefreiheit ist ein Muss – ohne Wenn und Aber.

Seit Jahren schlagen engagierte Selbsthilfevertreter vor, dass gerade bei Generalsanierungen der Bahn die beste Gelegenheit wäre, Barrierefreiheit von Anfang an und richtig umzusetzen. Was nützen frisch umgebaute Strecken, die „auf den Stand gebracht werden“, weil die Infrastruktur total abgenutzt ist, wenn danach nicht alle Reisenden ohne Barrieren unterwegs sein können? „Aufhübschen“ mit neuen Fliesen, etwas Farbe und neuen Abfallkörben am Bahnsteig – reicht nicht.

Bernd Kittendorf sagt: „Aus meiner Sicht gehören nicht nur Gleise, Signaltechnik und Fahrdraht dazu, es geht auch um die Stationen als Zugang zum System Eisenbahn. Fliesen im Riedbahn-Design (oder so) sind ok, doch Treppen und Geländer, zeitgemäße Aufzüge plus Rampen zwecks Redundanz, Leitsysteme und Fahrgastinformation – nicht nur digital – gehören auch dazu. Und natürlich Bahnsteige in passender Höhe für den Ein- und Ausstieg ohne Mühen und Stolpereien für alle …“

Die Bahn kommt … nur nicht für alle …

Realität derzeit heißt: Die Bahn kommt – nur nicht für alle … und beim Schienen-Ersatz-Verkehr wird das nochmals deutlicher … So wird das nichts mit der ökologischen Verkehrswende!

… wenn eine „Toilette für alle“ erst einen Familienausflug möglich macht …

Jeden Freitag verschicken wir unseren lvkm-Newsletter mit Informationen rund um das Leben mit Behinderung. In der Ausgabe Nr. 22/2024 vom 14. Juni 2024 berichteten wir über die „Toilette für alle“ im Strandbad Mettnau in Radolfzell am Bodensee. Barrierefreiheit und Inklusion sei im Strandbad Mettnau normal, denn längst gebe es dort bereits einen Strandrollstuhl zum Ausleihen. Seit einiger Zeit stehe nun auch eine „Toilette für alle“ zur Verfügung. Gemeinsam mit Stadtrat Jürgen Keck und Vertretern der Stadtverwaltung habe die LVKM-Geschäftsführerin das Serviceangebot gecheckt. Das Strandbad Mettnau sei das einzige Bad rund um den Bodensee mit einer „Toilette für alle“.“

Ein paar Tage darauf erreichte uns eine begeisterte Mail einer Familie, die ich hier gerne weitergebe.

„Ihr Newsletter ist für mich immer wie ein kleines Schatzkästchen, eine Fundgrube interessanter Themen und links, und spannender Informationen. Der Newsletter 22 enthielt eine für mich sehr interessante Information – nämlich Ihre Info über die neue „Toilette für alle“ im Strandbad Mettnau, Radolfzell. Wir wohnen ja hier in Ravensburg in guter Bodenseenähe, sind häufig am Bodensee, normalerweise aber eher am Ufer zwischen Meersburg und Bregenz. (Die „Toilette für alle“ am Cap Rotach kennen wir schon, ebenso die auf der Insel Mainau.)

Nun gab uns gestern Ihr Hinweis aufs super für uns ausgestattete Strandbad Mettnau die entsprechende Motivation, unseren bald 22-jährigen Sohn, sein großes Rollstuhltransportfahrrad und das ganze Tagesgepäck in unseren Bus einzuladen und Richtung Radolfzell zu fahren.

Wir haben Schönes miteinander verbunden
• eine Radtour in den T-Shirts vom „Toleranzlauf“ Ravensburg.
• Km-Sammeln fürs „STADTRADELN Ravensburg“ – an dem wir für unser kleines Team „Radeln für PallikJUR“ Fahrrad fahren (der ambulante Kinder- und Jugendpalliativdienst der Uni Ulm, mit Zweigstelle in Ravensburg betreut unseren Sohn seit Jahren in seinen wiederholten gesundheitlichen Krisen (schwere Lungenentzündungen) zuhause, und hilft uns, Klinikaufenthalte zu vermeiden.)
• ein paar schöne Stunden im schönen Strandbad mit gutem Essen im Strandbad-Restaurant mit schönstem Bodenseeblick

und – ganz wichtig –

Wir konnten unseren Sohn in dem super ausgestatteten und sehr geräumigen „Toilette für alle“-Container wickeln, was wirklich super war. Normalerweise stehen wir immer nach 3 – 4 Stunden unter Zeitdruck, um unseren Sohn diesbezüglich mit neuem Inkontinenzmaterial zu versorgen. D.h., zumeist planen wir dann die Ausflüge eher kurz, so dass wir dann die nächste „Versorgungs-Wickelrunde“ wieder zuhause durchführen können.

Dank der „Toilette für alle“ konnten wir nun entspannt und problemlos einen Tagesausflug machen.“

Wenn Sie die Info nicht über Ihren LVKM-Newsletter herausgegeben hätten, hätte es bestimmt gedauert, bis ich das Strandbad Mettnau und Umgebung als neues „machbares“ Ausflugsziel mit unserem Sohn für uns entdeckt hätte.“


Selbsthilfe wirkt – und eine „Toilette für alle“ ist Teilhabe am Leben. Inklusion kann so einfach sein …

„Tag der Vielfalt“ am 28. Mai 2024

„Inklusion in der Arbeitswelt geht: man muss es nur wollen“

Jeder Mensch hat Talente. Menschen mit Behinderungen sind hoch motiviert, ihren Platz in der Arbeitswelt zu finden und auszufüllen. Entscheidend ist, dass Arbeitgeber Menschen mit Behinderungen eine Chance geben und bestehende kleine und großen Barrieren abbauen. Leider ist die Landesregierung Baden-Württemberg hier alles andere als vorbildlich unterwegs. Mitte Mai hat die Landesregierung im Sozialausschuss des Landtags den Bericht zur Beschäftigung schwerbehinderter Menschen für das Jahr 2022 vorgestellt. Demnach lag die errechnete Beschäftigungsquote in der Landesverwaltung im Jahresdurchschnitt bei 3,99 Prozent. Nur zur Erinnerung: die Pflichtquote liegt bei 5 Prozent, die Betriebe ab 20 Beschäftigte erfüllen müssen.

Unser Landesverband hat weniger als 20 Beschäftigte und ist daher von der Beschäftigungsquote befreit. Umso mehr freuen wir uns, dass wir eine Beschäftigungsquote von 25 Prozent erfüllen. Wir zeigen jeden Tag, dass Inklusion in der Arbeitswelt möglich ist. Man muss es nur wollen.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Heute feiert unser Grundgesetz Geburtstag. 75 Jahre ist unsere Verfassung alt – und so aktuell wie eh und je. Ein Grund für uns alle, die Demokratie zu feiern. Die zentralen Werte sind in den Artikeln 1 bis 19 verankert – und von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes mit einer „Ewigkeitsklausel“ versehen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ heißt es zentral im Artikel 1. Artikel 3 garantiert die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ kam durch eine Änderung des Grundgesetzes im November 1994 dazu – und hat inzwischen auch schon 30 Jahre auf dem Buckel.
Im Alltag vergessen wir manchmal, welch ein Schatz unser Grundgesetz ist. Es bietet uns aber eine verlässliche Grundlage für das Zusammenleben, zeigt Leitplanken auf, gibt die Richtung für unser Zusammenleben vor.

Auch das ist Menschenwürde: mit Unterstützter Kommunikation sprechen


Vor kurzem sprach ich mit der Mutter eines jungen Mannes mit Behinderung, der in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen (WfbM) arbeitet. Wir sprachen über Unterstützte Kommunikation und die Hilfsmittel wie Talker, die es inzwischen gibt. Die Kommunikation mit Hilfe der Talker gibt Menschen eine Sprache und ermöglicht Teilhabe. Und Menschenwürde. Doch über die Finanzierung wird immer wieder gestritten. Das belastet die Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen sehr. Die Mutter: „Den Menschen klaut man die Sprache, wenn man den Talker in der Werkstatt, im Wohnbereich oder in der Freizeit nicht nutzen kann.“ Feiern wir also unser Grundgesetz und wünschen ihm auch für die Zukunft nur das Beste, denn: „die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Bundesgerichtshof setzt klares Zeichen für mehr Barrierefreiheit

mehrstockige Wohnhäuser; im Hintergrund ist die Stadt zu erkennen.
Häuserzeile mit mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshäuser in einer Stadt
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Der Bundesgerichtshof (BGH) sagt „Ja“ zum nachträglichen Einbau eines Außenaufzuges am Hinterhaus eines denkmalgeschützten Altbaus in München sowie eine Rampe zur Terrasse einer Wohnanlage in Bonn. Mit diesen zwei Entscheidungen (Az: V ZR 244/22 und V ZR 33/23) setzt der BGH ein klares Zeichen für mehr Barrierefreiheit beim Wohnen. Ein echter Meilenstein, den es zu feiern gilt!

Vorfahrt für Barrierefreiheit

Die Richter verwiesen auf eine Reform des Wohnungseigentumsrechts vor wenigen Jahren. Danach kann jeder Wohnungseigentümer (auf eigene Kosten) angemessene bauliche Veränderungen verlangen, die Menschen mit Behinderungen helfen, eine Wohnung entsprechend nutzen zu können. Mit der Reform sollte es Menschen mit Behinderungen leichter haben, eine vorhandene Wohnung bzw. der Zugang zu selbiger barrierefreier zu gestalten. Der Gesetzgeber wollte, dass Miteigentümer dies – aus welchen Gründen auch immer – nicht verhindern können. Aufgabe der Gerichte es sei, den Willen des Gesetzgebers umzusetzen.

Wenn ein Stein ins Wasser fällt …

… zieht er Kreise. Die beiden Urteile des BGH wirken weit über die beiden verhandelten Einzelfälle hinaus. Davon bin ich überzeugt. Und das ist gut so. Es geht um Selbstbestimmung. Jede und jeder soll wohnen, wo sie und er es will. Da ist das alt gewordene Ehepaar, das seit den 1980er Jahren in einem Hochhaus mit Aufzug wohnt – aber von der Haustür zum Aufzug sind sieben Stufen zu überwinden. Und aufgrund eines Schlaganfalls ist ein Ehepartner auf einen Rollstuhl angewiesen – und kann die Wohnung nicht mehr alleine verlassen. Sieben Stufen sind einfach sieben Stufen zu viel. Oder die junge Frau, die als Folge eines schweren Unfalls gelähmt ist und nach dem Krankenhausaufenthalt nicht mehr in ihre Wohnung in der dritten Etage – ohne Aufzug – zurückkann. Umziehen? Nahezu aussichtslos, denn barrierefreie Wohnungen sind fast so selten wie der berühmte Sechser im Lotto.

Mögen die beiden Urteile des BGH endlich ein Umdenken bewirken! Wir brauchen den Abbau von Barrieren bei bestehenden Wohnungen. Wer meint, den Bedarf an barrierefreien Wohnungen nur durch neugebaute Wohnungen zu decken, irrt. Die Nachfrage steigt täglich – allein durch die Babyboomer, die bald in Rente gehen. Der BGH hat ein klares Zeichen gesetzt – und da gibt es kein Zurück!

Die Entscheidungen des BGH sind nachzulesen unter https://www.bundesgerichtshof.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2024/2024026.html;jsessionid=84A5A7C5A0528D94DBBFE025E4D75B45.internet012?nn=10690868