„Risikogruppe“ allein zuhause … wie lange noch?

Nach drei Monaten Corona-Krise und dem Leben im Ausnahmezustand sehnen wir uns alle nach mehr Normalität im Alltag. Die Landesregierung hat weitere Lockerungen in den unzähligen Corona-Verordnungen beschlossen. Den sonnigen Brückentag am Freitag nutzten viele Menschen, um nicht nur mit Personen aus dem eigenen Haushalt in der Stadt oder in den Parks unterwegs zu sein. Doch was ist mit all denen, denen man zu Beginn der Corona-Krise den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat?

Der Stempel „Risikogruppe“ tut weh. Das berichten mir viele Menschen mit Behinderungen (und deren Familienangehörige), denen man – ungefragt – den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat. Niemand von uns will als Risiko für sich und andere sein. Risiko bedeutet bei uns Gefahr oder Nachteil für sich und andere. Zunächst galten alte Menschen und Menschen mit Behinderungen pauschal zur „Risikogruppe“. Inzwischen differenziert das Robert-Koch-Institut dies und verweist auf ein höheres Risiko z.B. für Menschen mit geschwächter Immunität. Doch was heißt das für den Alltag?

Die „Risikogruppe“ blieb allein zuhause oder in Wohneinrichtungen. Soziale Kontakte fanden nur virtuell statt (vorausgesetzt, dass es technisch ging und die Menschen damit auch umgehen konnten). Einige Eltern berichteten mir, dass selbst die Gratulation zum Geburtstag des Sohnes nur aus der Ferne möglich war. Die Eltern standen vor dem Wohnheim, das Geburtstagskind auf dem Balkon im 1. Obergeschoss. Da fehlt die Umarmung, das liebevolle gedrückt-werden. Das tut weh.

Immer mehr fragen uns an, wie lange das noch dauert. Ich weiß es nicht. Wie schaffen wir Nähe? Viele Menschen mit schweren Behinderungen verstehen einfach nicht, weshalb die Eltern, Freunde nur auf Abstand da sind. Ich werde oft gefragt, wann man denn endlich wieder selber entscheiden darf, was einem gut tut und was nicht. Auch darauf habe ich keine Antwort. Wir alle wollen gesund sein und bleiben. Aber zur Gesundheit gehört auch eine gesunde Seele. Und wir Menschen sind soziale Wesen, die andere Menschen und die Nähe zu ihnen brauchen. Immer mehr Stimmen werden laut, die auf die Gefahr hinweisen, dass alte und / oder behinderte Menschen aufgrund der sozialen Isolation der letzten Monate länger als andere leiden können. Diese Frage beschäftigt uns sehr – und doch haben wir darauf auch keine verbindliche Antwort.

Die Chinesen haben für die Worte „Risiko“ und „Chance“ das gleiche Schriftzeichen. Nehmen wir uns ein Beispiel daran. Wir hoffen, dass aus dem Risiko eine Chance wird, die niemand ausgrenzt.

„Gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Ich habe Angst, dass ich meinen Arbeitsplatz verliere.“ Dies sagte mir diese Woche eine Frau im Rollstuhl. Sie lebt in einer gemeinschaftlichen Wohnform und arbeitet in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM). „Ich arbeite am Computer. Und jetzt kehren die ersten Beschäftigten wieder in die WfbM zurück – aber nur die, die mit Bus oder Bahn selber zur Werkstatt kommen können. Und ich muss noch in der Wohngruppe bleiben, weil ich einen Sonderfahrdienst brauche. Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch?“

Arbeit ist für Menschen mit Behinderung mehr als Broterwerb.
Arbeit bedeutet auch:
– Tagesstruktur im Alltag
– Anerkennung für das, was man tut
– Soziale Kontakte

Die Arbeit fehlt. Zunächst fühlte sich alles nach Urlaub an. Aber jetzt sind die Werkstätten schon über zwei Monate geschlossen. Nur wenige sind inzwischen zurück. Und es fällt schwer, zu verstehen, warum Kollege A schon wieder arbeiten darf und man selbst noch nicht. Klar, es geht um den Schutz der Gesundheit. Und wir alle wollen gesund bleiben.

Es ist nicht einfach, die Corona-Verordnungen zu verstehen. Wir müssen erklären, warum wer schon wieder zurück in die Werkstatt darf und warum andere das noch nicht dürfen. Wir im LVKM machen dies so gut wir können. Einfach ist es nicht. Es reicht nicht aus, zu sagen, dass das Abstand halten im Kleinbus schwieriger ist als in der Stadtbahn oder im großen Bus. Die Regeln müssen verständlich sein – für alle.

„Nur weil ich im Rollstuhl sitze und nicht allein mit dem großen Bus fahren kann, muss ich daheim bleiben. Das ist gemein. Ich versteh‘ das nicht“, sagt die Frau am Telefon. Sie ist einsam, traurig und wütend. „Sag mir bitte, gibt es meine Arbeit nach Corona noch? Oder macht es dann jemand anderes? Und was wird dann mit mir? Was mache ich?“ Ganz ehrlich: ich weiß es nicht. Für die Anruferin war es nur ein kleiner Trost, dass ich ihr sagte, dass sie auf jeden Fall weiter in der Werkstatt arbeiten kann. Als Werkstattbeschäftigte kann sie nicht gekündigt werden.

Die Werkstatträte Baden-Württemberg machen ihren Kollegen Mut. Sie erklären in einem offenen Brief, wie es weitergehen kann. Sie finden den Brief unter https://www.wr-ba-wue.de/dokumente/upload/15512_Liebe_Kolleginnen_und_Kollegen.pdf

… 1,2,3 – raus …

Nein, diese Woche ist mir mehr zum Heulen denn zum Lachen. Niemand redet derzeit, wie Menschen mit und ohne Behinderung in einer inklusiven Gesellschaft gemeinsam gut durch die Corona-Krise kommen. Und selbst in mir, die ich mich gerne scherzhaft „edel-behindert“ bezeichne, spüre ich – erstmals seit meinen Kindertagen in den 1960er-Jahren – wie das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgegrenzt-Werdens aufgrund einer Behinderung zurückkommt. Und dabei wollen wir nur eins – dazuzugehören. Doch wer sich nicht anpassen kann, fliegt derzeit 1,2,3 – raus. Einfach so …


Stell Dir vor, es gibt eine Ausnahme von der Maskenpflicht – und (kaum) einer kennt sie!


Das Telefon stand diese Woche nicht still. Da ist Frau A., die ein ärztliches Attest hat, das sie von der Maskenpflicht befreit. Sie wird von der Security am Eingang eines großen Kaufhauses in Stuttgart am Betreten verhindert. Das Vorzeigen des Attests half nicht weiter. Und auch der Ruf nach der Geschäftsleitung änderte nichts an der Botschaft: „Sie kommen hier nicht rein.“ Und da ist Frau B., Mutter einer schwerstbehinderten Tochter, die keine Maske tragen kann. Sie musste für das ärztliche Attest 10 Euro Gebühren zahlen. Und wird von ihren Mitmenschen unterwegs schief angeschaut, dass sie sich nicht mehr traut, mit der Tochter unterwegs zu sein. Statt mit dem Bus fahren sie wieder mit dem eigenen Auto zum Arzt. Diese Blicke tun weh, verletzen, diskriminieren. Auch kenne diese Blicke aus meiner Kindheit …. es fühlt sich so schlimm an. Und das Schlimmste: man ist in diesem Moment so ausgeliefert, kann sich nicht wehren.

Hinweisschild für Läden zur Maskenpflicht – Ausnahmen werden nicht erwähnt …

Die Corona-Verordnung Baden-Württemberg sieht aber Ausnahmen von der „Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen“ vor. In § 3 Absatz 1 Satz der Verordnung heißt es wörtlich: „wenn dies nicht aus medizinischen Gründen oder aus sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist oder wenn nicht ein anderweitiger mindestens gleichwertiger baulicher Schutz besteht.“ Soweit, so gut. Doch die Werbekampagne der Landesregierung erwähnt die Ausnahmen nicht mal in der Fußnote. Wie also schaffen wir es, dass die Ausnahmeregelung nicht nur die Menschen mit Behinderungen kennen, die auf die Befreiung von der Maskenpflicht angewiesen sind?



Stell Dir vor, Du sitzt im Rollstuhl und kannst keinen Einkaufswagen benutzen!


Eine andere Frau, ein anderer Ort. Frau X lebt in der eigenen Wohnung und ist mit einem Elektro-Rollstuhl unterwegs. Wie gewohnt wollte sie in einem ihr bekannten Drogeriemarkt einkaufen. Am Eingang wurde sie von der Security aufgefordert, einen Einkaufswagen zu nutzen. Das funktioniert aber nicht mit Elektro-Rollstuhl. Eine Mitarbeiterin des Drogeriemarktes kam dazu, entschuldigte sich ein bisschen, blieb aber dabei, dass sie ohne Einkaufswagen nicht in den Laden könne. „Es ist halt so.“ Eine andere Kundin kam zur Hilfe und besorgte die gewünschten Artikel, während Frau X. im Rollstuhl draußen warten musste. Selbstbestimmung? Es ist so frustrierend, diskriminierend.

Beide Bespiele sind typisch. Und sie dürfen so nicht passieren. In beiden Beispielen liegt ein Verstoß gegen das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) vor. Die neutrale Regelung (Masken- bzw. Einkaufswagenplicht zum Senken des Infektionsrisikos) als nicht sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig zu bewerten ist (§3 Absatz 2 AGG). Unverhältnismäßig ist, wenn es keine Ausnahme in begründeten Einzelfällen zugelassen wird. Durch eine solche Ausnahme würde das Infektionsrisiko auch allenfalls in einer zu vernachlässigenden Weise erhöht werden. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sammelt solche Beispiele, die – leider – keine Einzelfälle sind.

Und die Moral von der Geschichte? Auch wenn es schwer fällt, wehren Sie sich gegen Diskriminierung im Alltag aufgrund einer Behinderung! Sie sind nicht allein! Selbsthilfe tut gut. Rufen Sie an, schreiben Sie uns! Gemeinsam sind wir stark!

… aber bitte mit Abstand …

Ansteckung vermeiden „Wir halten zusammen. Auch mit Abstand.“ Die Landesregierung Baden-Württemberg wirbt mit diesem Motto in der aktuellen Coronakrise. Zusammenhalten zählt für uns als Selbsthilfeverband zur Grund-DNA, denn es waren in den 1960er Jahren die Eltern körperbehinderter Kinder, die zusammengehalten haben, sich gegenseitig Mut gemacht und unterstützt haben. Sie haben Ortsvereine und unseren Landesverband gegründet. Warum? Ganz einfach: weil sich die Gesellschaft damals nicht um die Familien mit behinderten Kindern gekümmert hat. Sie waren allein und fühlten sich allein gelassen.
Seit damals hat sich vieles verändert, verbessert. Eigentlich. Doch in der aktuellen Coronakrise kommen bei manchen Erinnerungen an die Gründerzeit auf. Familien mit behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die derzeit Abstand halten und rund um die Uhr zuhause sind, Beruf, Haushalt, Pflege, Betreuung und vieles mehr organisieren, sind nicht nur gefordert. Nein, sie sind auch überfordert. Und sie sind leise, viel zu leise. Sie sind so angespannt im Alltag, dass sie kaum die Kraft haben, laut ihren Ärger, ihre Verzweiflung, ihren Hilferuf zu rufen. Sie hoffen auf Lockerungen, auf die Öffnung von Schulkindergarten, Schulen (SBBZ), Tagesbetreuung, gruppenbezogene Entlastungsangebote. Und natürlich wollen die Familien nicht den Gesundheitsschutz ihrer Kinder mit Behinderung oder gar ihre eigene Gesundheit in Gefahr bringen. Alle sind kreativ, haben Ideen zur Umsetzung – ganz pragmatisch. Für jeden Einzelfall.

Das Kultusministerium hat bereits im März Wege für eine Notbetreuung der Kinder mit Behinderung in SBBZ und Schulkindergärten aufgezeigt. Doch diese Möglichkeiten verpufften ganz oft, weil vor Ort Verantwortliche vermutlich Angst vor der Verantwortung haben, Angebote zu schaffen. In Elternbriefe wird vor der Inanspruchnahme von Angeboten der Notbetreuung gewarnt und auf die vielen Risiken hingewiesen. Eltern werden dadurch eingeschüchtert, sich zu melden und um Hilfe und Notbetreuung zu bitten.

Mich erreichen in den letzten Wochen viele solche Rückmeldungen. Und für mich das Schlimmste daran: ich kann nur zuhören, bin hilflos, kann ich konkret weiterhelfen. Dabei würde ich gerne mit der Faust auf den Tisch hauen, zum Telefonhörer greifen und den jeweiligen Verantwortlichen anweisen, doch bitte, bitte pragmatische Lösungen zu finden – natürlich mit dem nötigen Abstand und der Einhaltung der Hygieneregeln. Ja, das ist schwierig bei Kindern mit komplexen Behinderungen, die vielleicht nicht verstehen, was gerade los ist. Aber wir alle müssen es probieren, erklären, erklären und nochmals erklären. Wir müssen alles dafür tun, dass wir wieder langsam in den Alltag zurückfinden. Wir müssen uns selbst schützen, unsere Kinder, betreuende Kräfte, Lehrerinnen und Lehrer – einfach alle. Aber das erreichen wir nicht mit immer komplizierteren Dienstanweisungen und Warnungen. Wir müssen überlegen, wie wir Menschen mit Behinderungen begleiten können in ihren Alltag in Schulkindergarten, SBBZ, WfbM oder Tagesförderstätte – und welche Schutzmaßnahmen wir dazu brauchen. Geben wir zu: wir haben alle ein mulmiges Gefühl. Wir wissen alle nicht, was wirklich richtig oder falsch ist. Uns verbindet aber der Wille, was zu tun, was hilft. Im Kleinen und im Großen.

„Wir beraten persönlich: mit Regenschirm und Abstand.“

Wir haben unsere persönlichen Beratungen derzeit auch eingestellt. Oder auf ein Minimum reduziert. Das gilt auch für unsere Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB) vor Ort. Und dennoch sind wir für alle da. Und – mit Abstand – gelingen auch kreative Lösungen für persönliche Beratungen. Ein Beispiel meiner Reutlinger EUTB-Kollegin Brigitta Hermanutz: „Gestern saß ich bei einer Klientin im Vorgarten bei Regen – eingepackt in eine Decke und mit Regenschirm versehen. Sie saß in ihrem Zimmer am offenen Fenster und so haben wir unsere Beratung gemacht. Das öffnet doch ganz neue Perspektiven.“