„Triage“ – Entscheidung über Leben und Tod

Endlich! Wir sind erleichtert! Heute hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss zur „Triage“ veröffentlicht und den Verfassungsbeschwerden der Menschen mit Behinderungen stattgegeben: „Der Gesetzgeber muss Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen für den Fall einer pandemiebedingt auftretenden Triage treffen.“

Der Begriff „Triage“ stammt aus der Militärmedizin aus Napoleons Zeiten. Das ist jetzt über 200 Jahre her. Im Kern geht es im Kriegs- oder Katastrophenfall abzuwägen, wer bei knappen Ressourcen die besten Aussichten auf Überleben hat. Und mit jeder neuen Welle in der Coronakrise füllen sich die Intensivstationen der Kliniken – und jeden Tag wächst die Angst behinderter Menschen, im Falle eines Falles nicht die notwendige Hilfe zu erhalten – weil kein Bett auf der Intensivstation für sie frei ist oder weil der letzte Beatmungsschlauch bereits vergeben ist. Angst fressen Seele auf … was wäre, wenn man im Fall der Fälle das Recht auf Leben abgesprochen bekäme aufgrund der eigenen Behinderung? Eine zweite Chance auf Leben gibt es nicht …

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Das Bundesverfassungsgericht hat es sich nicht einfach gemacht und gründlich recherchiert. Und die Sorgen und Ängste der Menschen mit Behinderungen ernst genommen und geteilt. Allen Beteuerungen und Leitlinien zum Trotz besteht ein Risiko, in einer Situation knapper Ressourcen im Gesundheitswesen aufgrund der Behinderung benachteiligt zu werden. Das wäre ein klarer Verstoß gegen Artikel 3 Satz 3 Grundgesetz: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

„Behindert oder nicht behindert: jedes Leben ist gleich viel wert.“

Seit Monaten haben Menschen mit Behinderungen Angst, in der aktuellen Coronakrise ins Krankenhaus zu müssen – und womöglich aufgrund fehlender Ressourcen von dringend notwendiger Hilfe ausgeschlossen zu werden. Ich kann diese Angst, die durch den ganzen Körper kriecht, nachfühlen. Es ist dieses Gefühl der Ohnmacht, sich nicht schützen zu können. Ausgeliefert zu sein … Das hat das Bundesverfassungsgericht klar erkannt und einen wirksamen Diskriminierungsschutz im Gesundheitswesen gefordert und auf Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention verwiesen. Recht hat das Gericht!

Der Gesetzgeber muss handeln. Unverzüglich! Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf Schutz ihres Lebens – wie alle anderen auch!

Mehr dazu unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-109.html

„Risikogruppe“ allein zuhause … wie lange noch?

Nach drei Monaten Corona-Krise und dem Leben im Ausnahmezustand sehnen wir uns alle nach mehr Normalität im Alltag. Die Landesregierung hat weitere Lockerungen in den unzähligen Corona-Verordnungen beschlossen. Den sonnigen Brückentag am Freitag nutzten viele Menschen, um nicht nur mit Personen aus dem eigenen Haushalt in der Stadt oder in den Parks unterwegs zu sein. Doch was ist mit all denen, denen man zu Beginn der Corona-Krise den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat?

Der Stempel „Risikogruppe“ tut weh. Das berichten mir viele Menschen mit Behinderungen (und deren Familienangehörige), denen man – ungefragt – den Stempel „Risikogruppe“ aufgedrückt hat. Niemand von uns will als Risiko für sich und andere sein. Risiko bedeutet bei uns Gefahr oder Nachteil für sich und andere. Zunächst galten alte Menschen und Menschen mit Behinderungen pauschal zur „Risikogruppe“. Inzwischen differenziert das Robert-Koch-Institut dies und verweist auf ein höheres Risiko z.B. für Menschen mit geschwächter Immunität. Doch was heißt das für den Alltag?

Die „Risikogruppe“ blieb allein zuhause oder in Wohneinrichtungen. Soziale Kontakte fanden nur virtuell statt (vorausgesetzt, dass es technisch ging und die Menschen damit auch umgehen konnten). Einige Eltern berichteten mir, dass selbst die Gratulation zum Geburtstag des Sohnes nur aus der Ferne möglich war. Die Eltern standen vor dem Wohnheim, das Geburtstagskind auf dem Balkon im 1. Obergeschoss. Da fehlt die Umarmung, das liebevolle gedrückt-werden. Das tut weh.

Immer mehr fragen uns an, wie lange das noch dauert. Ich weiß es nicht. Wie schaffen wir Nähe? Viele Menschen mit schweren Behinderungen verstehen einfach nicht, weshalb die Eltern, Freunde nur auf Abstand da sind. Ich werde oft gefragt, wann man denn endlich wieder selber entscheiden darf, was einem gut tut und was nicht. Auch darauf habe ich keine Antwort. Wir alle wollen gesund sein und bleiben. Aber zur Gesundheit gehört auch eine gesunde Seele. Und wir Menschen sind soziale Wesen, die andere Menschen und die Nähe zu ihnen brauchen. Immer mehr Stimmen werden laut, die auf die Gefahr hinweisen, dass alte und / oder behinderte Menschen aufgrund der sozialen Isolation der letzten Monate länger als andere leiden können. Diese Frage beschäftigt uns sehr – und doch haben wir darauf auch keine verbindliche Antwort.

Die Chinesen haben für die Worte „Risiko“ und „Chance“ das gleiche Schriftzeichen. Nehmen wir uns ein Beispiel daran. Wir hoffen, dass aus dem Risiko eine Chance wird, die niemand ausgrenzt.

„Ja“ zur Maskenpflicht und den notwendigen Ausnahmen

Gesundheit ist ein hohes Gut. Das sagen derzeit alle. Für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien ist das aber keine Floskel, sondern die Grundlage für das Leben überhaupt. Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte … das alles bestimmt den ganz normalen Alltag über Jahre und Jahrzehnte.

Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus
Eine Frau mit Behinderung beschrieb in einer E-Mail an mich ihre Ängste: „Viren haben meine Nerven zerstört und mir die Lähmungen beschert. D.h., ich bin grundsätzlich ängstlich, was Viren ausgelöste Krankheiten anbetrifft. Ich halte mich aus dem Grund dem öffentlichen Leben momentan wirklich fern, so gut es geht. Das fällt mir nicht leicht, aber sowohl ich wie auch mein Mann gehören zur Risikogruppe. Ich weiß nicht, ob ich eine Corona-Infektion überleben würde. Deshalb fühle ich mich viel sicherer, wenn sowohl ich als auch meine Mitmenschen, die es können, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Nur so kann ich überhaupt Krankengymnastik machen. Wir haben beide eine FFP 2 Maske an. (…) Ich möchte an alle appellieren, eine Maske zu tragen. Es ist für Leute wie mich wirklich sicherer. Meine Ärztin hat mir ein anderes Attest einfach telefonisch ausgestellt, eben dass ich zur Risikogruppe gehöre. Auch nicht hübsch ,aber es ist halt so. Deshalb die Bitte, auch uns Gefährdete miteinzubeziehen. Ansonsten hocke ich für die nächsten ein bis zwei Jahre daheim fest!“

Wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht …

… ohne Wenn und Aber. Täglich erreichen uns seit Einführung der Maskenpflicht (einfacher Mund-Nasen-Schutz) verzweifelte Rückmeldungen von Menschen mit Behinderungen und Angehörigen, denen man den Zugang zu Läden verweigert, wenn sie keine Maske tragen. Sie haben den Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest dabei. Das interessiert vor Ort niemand. Es kommt auch vor, dass andere Kunden die Menschen mit Behinderungen angehen und beleidigen. Das ist eine Diskriminierung. Und das ist schlicht nicht akzeptabel. Am Freitag hat die Deutsche Presseagentur (dpa) in einem Bericht auch auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Die Beratungsstellen gegen Diskriminierung rufen zu mehr Verständnis für Menschen auf, die aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen keine Maske tragen können.

Auch wir fordern nachdrücklich, mehr über die Ausnahmen von der Maskenpflicht zu informieren. Deshalb haben wir uns wiederholt an die Landesregierung gewandt und um Klarstellung gebeten. Vor Pfingsten haben wir in einer Mail an die Covid-19-Lenkungsgruppe der Landesregierung auf die Dringlichkeit hingewiesen – und wurden vom Staatsministerium auf die Zuständigkeit des Ministeriums für Soziales und Integration verwiesen. Die Landesbehindertenbeauftragte unterstützt unser Anliegen.

Und – um das hier auch klar zu sagen – wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht und „nein“ zu den sog. „Maskenverweigerern“.