Barrierefreies Wählen – einfach machen!

Noch gut fünf Wochen bis zur Bundestagswahl am 26. September 2021. Die Wahlbenachrichtigungen sind verschickt. Für viele Menschen mit Behinderungen ist es selbstverständlich, wählen zu gehen. Mitbestimmung ist für sie keine Nebensächlichkeit. Das Recht, wählen zu dürfen, haben sie sich gemeinsam mit den Selbsthilfeverbänden hart erkämpft. Keine Spur von Wahlmüdigkeit – im Gegenteil.

Demokratie braucht Inklusion!“

„Demokratie braucht Inklusion“, sagt Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Stimmt. Der Bundeswahlleiter weist vor der Bundestagswahl darauf hin, wie wichtig der barrierefreie Zugang zum Wahlraum besonders für Wahlberechtigte mit Mobilitätseinschränkung ist. Seine Stimme per Briefwahl abzugeben ist – gefühlt – nicht das Gleiche wie die Stimmabgabe im Wahlraum. Demokratie wird auf ganz besondere Weise erlebbar, wenn man als Wahlberechtigte den ausgefüllten Stimmzettel im Wahlraum in die Urne einwirft. Es fühlt sich gut und richtig an.

„Ihr Wahlraum ist nicht rollstuhlgerecht.“

Sven Fichtner ist in Stuttgart Mitglied im Beirat für Menschen mit Behinderung. Die Wahlbenachrichtigung, die er vor einigen Tagen per Post erhielt, weist darauf hin, dass der Wahlraum nicht barrierefrei ist. Was also tun, wenn er als Bürger im Rollstuhl seine Stimme im Wahlraum abgeben will? Er will sich nicht damit abgeben, „dass das halt so ist. Der Aktivist hat eine Erklärung verfasst, in den sozialen Medien veröffentlicht sowie an die Stadtverwaltung Stuttgart, den städtischen Beirat für Menschen mit Behinderungen sowie an uns geschickt. Seine Erklärung im Wortlaut:

„Jeder wahlberechtigte Mensch in unserer Stadt muss seine Stimme in Wahllokalen abgeben können.
Es ist eine tiefe Verletzung unserer Menschenrechte, wenn wir wegen fehlender Barrierefreiheit nicht an Wahlen in einem Wahllokal teilnehmen können. Teilhabe behinderter Menschen ist ein Menschenrecht, kein Akt der Fürsorge oder Gnade.
Wir fordern dieses Menschenrecht ein und wollen von der Politik Lösungen sehen. Viele von uns deren Behinderung angeboren ist, haben noch nie in ihrem Leben in einem Wahllokal an Wahlen teilgenommen. Für manche ist die Teilnahme an der Wahl per Briefwahl eine Wahlmöglichkeit die andere gar nicht haben, sie haben gar keine andere Möglichkeit und somit keine Wahl.
Die Teilhabe am politischen Leben ist schon in dieser Form in der wir laut Gesetz endlich mit der Abgabe unserer Stimme an unserer Demokratie teilnehmen können massiv beeinträchtigt und ist für uns eine nicht länger hinnehmbare Verletzung unserer Menschenrechte, denn die bisherige Möglichkeit an der Teilnahme von Wahlen in Stuttgart  entspricht nicht der UN – Behindertenrechtskonvention, hier ist die fehlende bauliche Barrierefreiheit nur eine von vielen Menschenrechtsverletzungen.“

Demokratie lebt vom Mitmachen. Machen wir mit – und gehen wählen. Jede Stimme zählt!

Infos zum barrierefreien Wählen gibt es unter https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021/informationen-waehler/barrierefreies-waehlen.html.

… alles wird gut in 2021?!

Wir wünschen uns ein gesundes Jahr 2021!

Neulich unterhielten wir uns im kleinen Kreis über das ver-rückte Jahr 2020 und was uns im neuen Jahr erwartet. Eine Frau mit Behinderung berichtete, wie ihre Strategie im Umgang mit dem „Coronajahr 2020“ aussieht: „Ich zähle das Jahr 2020 nicht zu meinen Lebensjahren dazu, denn ich habe es ja eigentlich gar nicht genutzt. Seit März war ich aufgrund der Corona-Krise ja fast nur daheim und damit beschäftigt, Desinfektionsmittel, Mund-Nasen-Schutz usw. zu organisieren. Fast alles, was Spaß macht, wurde abgesagt, ist ausgefallen. Leben geht doch anders, oder etwa nicht? Ich freue mich auf 2021, da wird doch dann wieder alles gut, oder?“

Ich blicke auf die verschneite Winterlandschaft, auf den Neuschnee, der noch so ganz ohne Spuren ist. Ja, die Erwartungen an das Jahr 2021 sind groß. Zu groß? Ich hoffe, dass wir die Corona-Krise überwinden und wir uns Schritt für Schritt auf ein „Leben danach“ hinbewegen. Die Impfungen gegen das fiese Virus haben begonnen – auch wenn es noch 1001 Fragen offen sind. Die von der Bundesregierung festgelegte Impfreihenfolge ist wohl dem Mangel an Impfstoff geschuldet. Warum Menschen im ambulant betreuten Wohnen später als Menschen in Heimen („gemeinschaftlichen Wohnen“) dran kommen, ist nicht ganz nachvollziehbar. Und ob und wann es einen Impfschutz für Kinder und Jugendliche gibt, steht anscheinend auch noch in den Sternen.

Es gibt aber auch Dinge, die sich zum Jahresanfang 2021 bereits verändert haben – zum Guten. Und andere Dinge folgen. Die Regelsätze für Grundsicherung wurden leicht erhöht. Das Kindergeld wurde erneut erhöht. Nach über 45 Jahren werden erstmals auch die pauschalen Steuerfreibeträge für anerkannte schwerbehinderte Menschen erhöht – und sogar verdoppelt. Der Landesrahmenvertrag Baden-Württemberg nach SGB IX ist unterschrieben und die Stärkung der Teilhabe behinderter Menschen – wie es Ziel des Bundesteilhabegesetzes (BTHG)ist – kann weiter vorangehen. Der Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Baden-Württemberg wird fortgeschrieben. Weitere „Toiletten für alle“ werden in Baden-Württemberg geschaffen. Bei der Landtagswahl im März werden erstmals alle Menschen mit Behinderung wahlberechtigt sein. Und hoffentlich geht es auch mit Barrierefreiheit und Inklusion weiter. An uns liegt es ganz sicher nicht. Wir arbeiten dran, versprochen!

„Begrüße das neue Jahr vertrauensvoll und ohne Vorurteile, dann hast Du es schon halb zum Freunde gewonnen!“ sagte einst der deutsche Schriftsteller Novalis (1772 – 1801). Na, dann los!

Brauchen wir den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“?

1993 haben die Vereinten Nationen den 3. Dezember zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ ausgerufen. An diesem Tag soll der Blick ganz bewusst auf die Lebenswirklichkeit der Menschen mit Behinderungen weltweit gelenkt werden. Hierzulande wurde seither das Grundgesetz und die Landesverfassung Baden-Württemberg ergänzt um den Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Gleichstellungsgesetze im Bund und im Land wurden beschlossen, Beauftragte für Menschen mit Behinderungen in den Stadt- und Landkreisen verpflichtend eingeführt und die UN-Behindertenrechtskonvention wurde als einfaches Bundesgesetz 2009 beschlossen. Ist damit alles paletti?

„Ja, wir brauchen einen solchen Aktionstag – noch!“

LVKM-Geschäftsführerin Jutta Pagel-Steidl zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg: mit Maske und Abstand wie es in Coronazeiten üblich ist Am 3. Dezember war ich als Interviewpartnerin zu Gast im Hörfunkstudio von SWR4 Baden-Württemberg. Und natürlich ging es um diesen Aktionstag und die Frage, ob man einen solchen Tag noch braucht. Und schnell waren sich die Redakteurin und ich uns einig, dass wir den Tag noch brauchen. „Ist der Tag nicht auch ein Symbol dafür, was fehlt, nämlich die selbstverständliche Akzeptanz von Menschen mit Behinderungen in unserem Alltag.“ Und das musste ich – leider – so bestätigen. „Menschen mit Behinderungen werden von der Gesellschaft am Rande wahrgenommen, als eine Minderheit, die man beachtet oder nicht. Aber Menschen mit Behinderungen gehören mitten in die Gesellschaft. Es ist eine große Gruppe. Und die Vereinten Nationen haben diesen Aktionstag ausgerufen, damit viele darüber „stolpern“ und nachdenken. Und – so meine Hoffnung – dass es irgendwann mal dazu kommt, dass man diesen Aktionstag nicht mehr braucht.“

In Zeiten von Corona ist mein Eindruck, dass Inklusion gestern war und wir heute um Jahrzehnte in unserem Bemühen für eine selbstverständliche Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zurückgeworfen werden. Denn gerade in der Krise haben viele Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen den Eindruck, vergessen zu werden. Sie sind ja auch nicht laut, gehen auf die Straße und demonstrieren – weil sie den Alltag organisieren müssen, die Pflege und Betreuung sicherstellen, Home-Office und Home-Scooling unter einen Hut bringen müssen – und die so dringend benötigte Entlastung der Familien nahezu auf Null heruntergefahren ist. Die Familien sind auf sich allein gestellt – und dabei waren viele Familien schon vor Corona am Limit. Corona bremst aus. Die Familien leiden.

Meine Forderung: Menschen mit Behinderungen gehören dazu und dürfen nicht vergessen werden. Es braucht mehr Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gerade auch in Coronazeiten. Und solange es nicht selbstverständlich ist, dass von Anfang an die besonderen Belange der Menschen mit Behinderungen und ihrer Familien mitgedacht wird, so lange braucht es auch noch Aktionstage wie den „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung“.

Mehr Infos zum „Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen“ gibt es unter https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/301408/internationaler-tag-der-menschen-mit-behinderung

„Inklusion in der Krise?!“

Wer spricht in der Corona-Krise von Inklusion, also der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit und ohne Behinderung in der Gesellschaft? Fast niemand. Es scheint, dass sich derzeit nur Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und deren Selbsthilfeverbände Gedanken machen, wie Inklusion in der Corona-Krise und danach gelebt werden kann. Das Miteinander bröckelt. Diese Erkenntnis tut weh.

Der Tübinger Oberbürgermeister schlug vor kurzem vor, dass die Zeit zwischen 9.30 und 11 Uhr für Senioren reserviert werden sollen, die diese dann zum Einkaufen nutzen sollen. Und er appellierte an die Senioren, freiwillig auf das Busfahren ganz zu verzichten, um sich und ihre Gesundheit zu schützen. Umgehend wies der Vorsitzende des Landesseniorenrates Baden-Württemberg diese Vorschläge zurück und kritisierte die Stigmatisierung älterer Menschen aufgrund des Lebensalters.

Es ist und bleibt eine Gratwanderung. Wie schützen wir unsere Gesundheit und wie können wir dennoch teilhaben? Die eine einzige Antwort darauf gibt es nicht. Wir wollen uns aber auch in der Corona-Krise nicht die Selbstbestimmung wieder nehmen lassen. Wir müssen auch selbst entscheiden können, was uns gut tut und was weniger. Der Gedanke, dass wieder eine Besuchseinschränkung kommt, macht Angst. Beschränkungen wie Kontaktverbote sind derzeit leider notwendig, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber die Schutzmaßnahmen müssen angemessen sein. Und darüber brauchen wir eine Debatte.

Die Landesregierung richtet ein „Bürgerforum Corona“ mit rund 40 bis 50 zufällig ausgewählten Menschen ein. Als Arbeitsgrundlage dient eine Themenlandkarte. „Menschen mit Behinderungen“ oder „Inklusion“ finden sich bislang darauf nicht. Inklusion ist ein Menschenrecht, verankert in der UN-Behindertenrechtskonvention. Es liegt (wieder) an uns, uns einzumischen, dass Menschen mit Behinderung und ihr Anspruch auf Teilhabe nicht vergessen werden. Machen wir also mit! Bis zum 26. November 2020 können wir die Themenlandkarte noch kommentieren! Mehr dazu unter https://beteiligungsportal.baden-wuerttemberg.de/de/mitmachen/lp-16/buergerforum-corona/online-beteiligung/

Die Erfolgsgeschichte „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg geht weiter!

„Unser Stadtbummel ist begrenzt auf die Zeit, in der die Windelhose unserer Tochter nicht überläuft, also max. 2 – 3 Stunden. Wenn es schnell gehen muss, wickeln wir halt auf dem Fußboden einer öffentlichen Toilette, auf der Wiese oder auch auf der Rückbank unseres Autos. Menschenwürdig ist das nicht, aber was sollen wir machen? Immer daheim bleiben? Das geht auch nicht.“ Täglich erreichen uns solche ähnliche Rückmeldungen von Eltern von (erwachsenen) Kindern mit komplexen Behinderungen.

Wissen Sie, wie viele öffentliche Toiletten es in Baden-Württemberg gibt?
Haben Sie jemals darüber nachgedacht?

Zugegeben, wir kennen die Antwort auch nicht. Jedenfalls sind es sehr, sehr viele. Und so müssen wir uns auch keine Gedanken über deren Zahl machen und unsere Ausflugsziele am Standort von öffentlichen Toiletten oder öffentlich zugänglichen Toiletten auszuwählen. Das ist Luxus pur.

Die Zahl der öffentlich zugänglichen „Toiletten für alle“ kennen wir ganz genau. Landesweit gibt es aktuell 61 solcher Einrichtungen. „Toiletten für alle“ sind extra große Rollstuhltoiletten, die zusätzlich mit einer (höhenverstellbaren) Pflegeliege für Erwachsene, einem Patientenlifter für den rückenschonenden Transfer vom Rollstuhl auf die Liege und zurück sowie einem luftdicht verschließbaren Windeleimer ausgestattet sind. Oder es sind „Nur-Wickelräume“. Und extra groß bedeutet, dass die Räume mindestens 7 qm groß, häufig deutlich mehr. Das ist auch dringend notwendig, wenn ein Mensch im Rollstuhl von Assistenzpersonen begleitet wird.

Seit knapp fünf Jahren ist unser Landesverband im Auftrag des Ministeriums für Soziales und Integration unterwegs, für „Toiletten für alle“ zu werben und potenzielle Bauherren (und -frauen) zu beraten. Das Land fördert die Zusatzausstattung „Liege, Lifter, Windeleimer“ mit 90 Prozent Zuschuss, max. 12.000 Euro. Das ist bundesweit einmalig und ein wirksamer Baustein für gelebte Inklusion.

Mitten in den Sommerferien hat uns jetzt die gute Nachricht erreicht: die Förderung geht weiter! Damit können wir der Erfolgsgeschichte „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg weitere Kapitel anfügen! Jetzt brauchen wir Ihre Hilfe! Wo brauchen Sie eine „Toilette für alle“? Helfen Sie mit, weitere Standorte umzusetzen! Die Antragsfrist endet am 15. November 2020.

Mehr Infos zu „Toilette für alle“ in Baden-Württemberg, alle Standorte sowie den Förderaufruf finden Sie unter https://www.toiletten-fuer-alle-bw.de/

„Corona macht einsam.“

Die Wochen des sog. Lock-down in der Corona-Krise liegen schon einige Wochen zurück. Wenn man derzeit durch die Innenstädte geht, herrscht fast schon wieder „Normalzustand“. Gedränge, dicht besetzte Straßencafés … nur am Eingang der Ladengeschäfte, an den Haltestellen der Busse und Bahnen weisen Plakate und Aufkleber hin auf Abstand halten und sog. Maskenpflicht …

Diese Woche traf ich einen Mann mit Behinderung, der seit vielen Jahren in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) arbeitet und allein in einer eigenen Wohnung lebt. Als wir uns trafen, sagte er: „Corona macht einsam. Die Arbeit in der Werkstatt hat mir gefehlt. Der Kontakt zu den Arbeitskollegen hat mir gefehlt. Ich war allein zuhause. Keine Kontakte, nichts. Alleine wohnen ist echt doof. Was soll ich nur machen? Ich kann doch nicht wieder daheim bei meinen Eltern einziehen. Meine Eltern sind über 80 Jahre alt. Und einmal daheim ausziehen, ist für immer. Aber allein wohnen ohne Kontakte, ist auch nichts. Aber ich kann doch auch nicht in ein Wohnheim ziehen. Was soll ich nur machen? Ist das Inklusion? Dann will ich das nicht.“

Menschen mit Behinderungen, die alleine leben, fühlen sich allein gelassen. Von einem Tag auf den anderen war der Alltag weg. Die Strukturen, die Sicherheit geben, waren weg. Und neue Strukturen gab es nicht – und gibt es nicht. Corona macht einsam. Zu diesem Ergebnis kamen auch aktuelle Studien. Dabei wurde die Situation von Menschen mit Behinderungen nicht extra untersucht. Was tun gegen Einsamkeit, Depression und Langeweile? Eine allgemein verbindliche Antwort gibt es nicht. Und der Verweis, dass es auch viele Menschen ohne Behinderung gibt, die sich einsam fühlen, hilft nicht weiter.

Nun steigen wieder die Zahl der Neuinfektionen. Experten warnen vor der „zweiten Welle“ in der Corona-Krise. Doch welche Lehren ziehen wir aus der „ersten Welle“? Wie schaffen wir es, dass Menschen mit Behinderungen sich auch künftig trauen, alleine zu leben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Wie schaffen wir es, dass Inklusion im Alltag machbar wird? Helfen wir alle mit, dass wir in der Nachbarschaft, in unserem Stadtteil, in unserem Quartier solidarisch sind, uns kümmern und uns gegenseitig helfen. Trauen wir uns, auch in Zeiten des „social distancing“ auf andere zuzugehen und zu sagen, dass wir Hilfe brauchen. Jetzt, hier und heute. Das braucht Mut! Seien wir also mutig und wagen den ersten Schritt! Auch das ist Inklusion!

„Wir müssen leider draußen bleiben.“

Menschen mit Behinderungen und ihre Familien wollen sich und andere vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus schützen. Daher akzeptieren sie auch die geltende Maskenpflicht in Läden. Und sie wollen nicht in den gleichen Topf geworfen werden mit den erklärten Maskengegnern.
Die Corona-Verordnung lässt in § 3 Absatz 2 Ausnahmen zu,
– wenn dies aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist,
– wenn es behinderungsbedingt nicht möglich ist.
Als Nachweis gilt der Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest. Eigentlich. Bei uns steht das Telefon nicht still. Andere Betroffene, die vor der Türe des Ladens abgewiesen werden, schreiben E-Mails. Am Donnerstag hat die „Stuttgarter Zeitung“ und die „Südwest Presse“ erneut.

Spießrutenlauf beim Einkaufen

Emotionen kochen hoch. Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung oder eines anderen zwingenden Grund keine Maske tragen können, werden noch mehr ausgegrenzt, diskriminiert, verletzt, verstoßen, ihre Würde mit Füßen getreten. Das macht uns betroffen, wütend und traurig. Von Inklusion redet niemand mehr. Und auch nicht von der Bereitschaft, seinem Nächsten zu helfen, einfach so. Jeder Versuch, mal wieder die eigene Wohnung zu verlassen, selbst einzukaufen, wird zum Spießrutenlauf. „An den Pranger gestellt“ – ohne die Regeln verletzt zu haben.

Aber der Einzelhandel missachtet die Vorgaben und macht es sich einfach, rechtfertigt sich damit, dass man uns vor anderen Kunden schützen muss. Aber wer schützt uns vor diesem übergriffen Verhalten? Warum gibt es nicht Plakate am Eingang, die auf die Ausnahmen hinweisen? Warum werden wir Menschen mit Behinderung allein gelassen? Inklusion? Fehlanzeige!

„Wir müssen leider draußen bleiben.“

Ein Ehepaar (71/69), das aufgrund chronischer Erkrankungen von der Maskenpflicht nachweislich mit Attest befreit ist, kam mit dem Großeinkauf bis zur Kasse und wurde dort mit den Worten empfangen: „Ich darf Sie nicht abkassieren. Mein Chef sagte, dass ohne Maske nichts läuft.“ Und dann wurde auch noch die ärztliche Atteste weiteren Mitarbeitern gezeigt, so das Ehepaar. Nach einer unschönen Debatte durfte das Ehepaar dann „ausnahmsweise“ die Einkäufe bezahlen und den Laden verlassen. Solche und ähnliche Erlebnisse hören wir ständig.
Anscheinend sind wir Menschen mit Behinderungen und deren Familienangehörige Kundinnen und Kunden zweiter oder dritter Klasse. Aber wir sind viele wie der Blick in die Statistik zeigt. Und wir merken uns genau, wer uns im Handel willkommen heißt und wer nicht. So kaufen wir online ein (so der Shop barrierefrei ist) oder in den Läden, in denen den Kunden – unabhängig vom Geldbeutel, der Herkunft, dem Geschlecht – mit Respekt begegnet wird.

Herzlichen Glückwunsch Grundgesetz!

Unsere Verfassung, das Grundgesetz, macht auch in der Corona-Krise keine Pause. Und das ist gut so! Heute ist der „Tag des Grundgesetzes“. Es wurde am 23. Mai 1949 „geboren“. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben damit die Basis für unsere Demokratie und für unser Zusammenleben gelegt. „Die Würde des Menschen ist unantastbar,“ heißt es in Artikel 1. Im Alltag ringen wir ununterbrochen darum, wie dieses Grundrecht für uns alle mit Leben gefüllt werden kann. Einfach ist es nie.

„Pausentaste für ein selbst bestimmt Leben.“

Um die Gesundheit – also unser Recht auf körperliche Unversehrtheit – zu schützen, leben wir alle derzeit mit einer nicht unerheblichen Einschränkung unserer Grundrechte. Sich einfach so mit Freunden und Familie zu treffen, geht nicht. Kontaktverbot, Abstand halten – für die Gesundheit. Für Menschen mit Behinderungen sind diese Einschränkungen besonders hart. „Ich fühle mich eingesperrt“, sagte diese Woche eine Frau zu mir. Sie lebt in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft. „Ich darf nicht selber einkaufen gehen, damit ich den Scheiß-Virus nicht kriege, nicht krank werde und auch niemand anstecken kann. Und meine Familie, meine Freunde kann ich auch nicht treffen. Per Videotelefonie Kontakt halten, funktioniert auch nicht. Meine Eltern sind schon sehr alt und sie haben keinen Computer oder ein Smartphone. Und ich habe zwar ein Handy, aber ich brauche Hilfe, um es zu nutzen. Telefonieren geht schon, aber ich will meine Freunde und meine Familie mal wieder sehen. Und niemand kann mir sagen, wie lange das noch geht. Sag mir doch einfach, wann ich wieder wie in meinen normalen Alltag zurück darf. Mir reicht es.“

„Demokratie braucht Inklusion. Und Inklusion braucht Barrierefreiheit.“

So wie ihr geht es Vielen. In der Corona-Krise müssen wir alle Abstand halten. Immer mehr Menschen mit Behinderungen sind ungeduldig, fragen bei uns in der Geschäftsstelle nach. Aktuelle barrierefreie Informationen über die Corona-Krise fehlen. Fast jede Woche gibt es neue Corona-Verordnungen. Da geht der Überblick schon mal verloren. Was gilt für wen ab wann und wo? Da schwirrt einem der Kopf. Wie war das jetzt? Auch ich komme mir ab und zu vor, wie Hänsel und Gretel im Wald. Ich tapse aber ab und zu auch etwas orientierungslos durch den Paragrafendschungel, lese die vielen Texte, um sie dann Ratsuchenden zu erklären. Es wäre so wichtig, wenn es diese komplizierten Texte auch aktuell als barrierefreie Version da wäre – und war direkt von der Landesregierung, die die Regeln schreibt. Doch die aktuellen Verordnungen gibt es nicht in Leichter Sprache. Und auch die vielen Fragen und Antworten (FAQ) auch nicht. Ganz anders sieht es in Bayern aus. Dort gibt es sämtliche Neuerungen, die in Pressekonferenzen vorgestellt werden, in Leichter Sprache. Davon können wir in Baden-Württemberg noch immer nur träumen. Vor zwei Monaten hatten wir in einem Brief an die Landesregierung appelliert, barrierefreie Informationen zur Corona-Krise aktuell bereitzustellen, denn Demokratie braucht Inklusion. Und Inklusion braucht Barrierefreiheit. Eine Antwort auf unseren Brief haben wir noch nicht. Aber immerhin gibt es seit dieser Woche ein Erklärvideo zu Regeln zum Schutz vor dem Corona-Virus in Leichter Sprache und mit Untertitel. Ein Anfang ist gemacht …
https://sozialministerium.baden-wuerttemberg.de/de/service/media/mid/regeln-zum-schutz-vor-dem-coronavirus-in-leichter-sprache/


… 1,2,3 – raus …

Nein, diese Woche ist mir mehr zum Heulen denn zum Lachen. Niemand redet derzeit, wie Menschen mit und ohne Behinderung in einer inklusiven Gesellschaft gemeinsam gut durch die Corona-Krise kommen. Und selbst in mir, die ich mich gerne scherzhaft „edel-behindert“ bezeichne, spüre ich – erstmals seit meinen Kindertagen in den 1960er-Jahren – wie das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgegrenzt-Werdens aufgrund einer Behinderung zurückkommt. Und dabei wollen wir nur eins – dazuzugehören. Doch wer sich nicht anpassen kann, fliegt derzeit 1,2,3 – raus. Einfach so …


Stell Dir vor, es gibt eine Ausnahme von der Maskenpflicht – und (kaum) einer kennt sie!


Das Telefon stand diese Woche nicht still. Da ist Frau A., die ein ärztliches Attest hat, das sie von der Maskenpflicht befreit. Sie wird von der Security am Eingang eines großen Kaufhauses in Stuttgart am Betreten verhindert. Das Vorzeigen des Attests half nicht weiter. Und auch der Ruf nach der Geschäftsleitung änderte nichts an der Botschaft: „Sie kommen hier nicht rein.“ Und da ist Frau B., Mutter einer schwerstbehinderten Tochter, die keine Maske tragen kann. Sie musste für das ärztliche Attest 10 Euro Gebühren zahlen. Und wird von ihren Mitmenschen unterwegs schief angeschaut, dass sie sich nicht mehr traut, mit der Tochter unterwegs zu sein. Statt mit dem Bus fahren sie wieder mit dem eigenen Auto zum Arzt. Diese Blicke tun weh, verletzen, diskriminieren. Auch kenne diese Blicke aus meiner Kindheit …. es fühlt sich so schlimm an. Und das Schlimmste: man ist in diesem Moment so ausgeliefert, kann sich nicht wehren.

Hinweisschild für Läden zur Maskenpflicht – Ausnahmen werden nicht erwähnt …

Die Corona-Verordnung Baden-Württemberg sieht aber Ausnahmen von der „Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen“ vor. In § 3 Absatz 1 Satz der Verordnung heißt es wörtlich: „wenn dies nicht aus medizinischen Gründen oder aus sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist oder wenn nicht ein anderweitiger mindestens gleichwertiger baulicher Schutz besteht.“ Soweit, so gut. Doch die Werbekampagne der Landesregierung erwähnt die Ausnahmen nicht mal in der Fußnote. Wie also schaffen wir es, dass die Ausnahmeregelung nicht nur die Menschen mit Behinderungen kennen, die auf die Befreiung von der Maskenpflicht angewiesen sind?



Stell Dir vor, Du sitzt im Rollstuhl und kannst keinen Einkaufswagen benutzen!


Eine andere Frau, ein anderer Ort. Frau X lebt in der eigenen Wohnung und ist mit einem Elektro-Rollstuhl unterwegs. Wie gewohnt wollte sie in einem ihr bekannten Drogeriemarkt einkaufen. Am Eingang wurde sie von der Security aufgefordert, einen Einkaufswagen zu nutzen. Das funktioniert aber nicht mit Elektro-Rollstuhl. Eine Mitarbeiterin des Drogeriemarktes kam dazu, entschuldigte sich ein bisschen, blieb aber dabei, dass sie ohne Einkaufswagen nicht in den Laden könne. „Es ist halt so.“ Eine andere Kundin kam zur Hilfe und besorgte die gewünschten Artikel, während Frau X. im Rollstuhl draußen warten musste. Selbstbestimmung? Es ist so frustrierend, diskriminierend.

Beide Bespiele sind typisch. Und sie dürfen so nicht passieren. In beiden Beispielen liegt ein Verstoß gegen das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) vor. Die neutrale Regelung (Masken- bzw. Einkaufswagenplicht zum Senken des Infektionsrisikos) als nicht sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig zu bewerten ist (§3 Absatz 2 AGG). Unverhältnismäßig ist, wenn es keine Ausnahme in begründeten Einzelfällen zugelassen wird. Durch eine solche Ausnahme würde das Infektionsrisiko auch allenfalls in einer zu vernachlässigenden Weise erhöht werden. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sammelt solche Beispiele, die – leider – keine Einzelfälle sind.

Und die Moral von der Geschichte? Auch wenn es schwer fällt, wehren Sie sich gegen Diskriminierung im Alltag aufgrund einer Behinderung! Sie sind nicht allein! Selbsthilfe tut gut. Rufen Sie an, schreiben Sie uns! Gemeinsam sind wir stark!

Barrierefreiheit!? – Völlig überwertet?

Jede Barriere ist eine zu viel.“ Vor einigen Jahren hatte die AKTION MENSCH den Aktionstag zum Europäischen Gleichstellungstag von Menschen mit Behinderungen (5. Mai) unter dieses Motto gestellt. Das war gut so. Inklusion ohne eine umfassende Barrierefreiheit geht nicht. Das Recht auf Zugänglichkeit ist auch ein zentrales Thema in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Barrierefreiheit ist auch weit mehr als abgesenkte Bordsteine, Rampe und Aufzug. Doch wenn ich auf diese Woche zurückblicke, wird Barrierefreiheit von Vielen als „nice to have“ – also auf gut Schwäbisch als „muss nedd unbedingt sein“, also ein Beiwerk, eine Nebensache, etwas, das keine Funktion oder Verbesserung hat, also leicht verzichtbar und halt nur nett. Ist Barrierefreiheit also völlig überbewertet? Nein, natürlich nicht!!!

„Demokratie braucht Inklusion und Barrierefreiheit.“

In der aktuellen Corona-Krise sind alle online. Wer nicht digital unterwegs ist, ist außen vor. Doch wer denkt da gerade an die Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung nicht ohne Weiteres digital unterwegs sein können? Oder eben dabei Unterstützung brauchen? Oder einfach nur darauf angewiesen sind, dass die digitalen Lösungen – vom Videokonferenztool bis zur Unterhaltungs-App und dem Antragsformular für eine Dienstleistung einer Behörde oder dem Bestellformular beim Online-Shopping – von Anfang an barrierefrei geplant und umgesetzt sind.
Am Donnerstag hat der Landtag einen Gesetzentwurf beschlossen, der Gemeinden und Landkreisen Gremiensitzungen in Form von Videokonferenzen durchzuführen. Gerade in Zeiten von Corona ist es richtig, Lösungen für einen vorbeugenden Gesundheitsschutz zu suchen. Doch niemand hat sich darüber Gedanken gemacht, ob tatsächlich nur Videokonferenztools zum Einsatz kommen, die barrierefrei nutzbar sind. Interessierte Bürgerinnen und Bürger, die die öffentliche Sitzung verfolgen wollen, müssen dazu „in einen öffentlich zugänglichen Raum“ gehen, in den die Gremiensitzung übertragen wird. Und der muss nicht barrierefrei sein. Das Wort „barrierefrei“ taucht im Gesetz und der Begründung gar nicht auf. Weder die Landesbehindertenbeauftragte noch der Landesbehindertenbeirat noch die Selbsthilfeverbände von Menschen mit Behinderungen wurden im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens in irgendeiner Weise beteiligt. Wir haben zufällig davon erfahren – und dann ungefragt uns eingemischt, nachzulesen unter https://www.lv-koerperbehinderte-bw.de/pdf/lvkmbw-gemO-42020.pdf

Anderes Beispiel: muss Händedesinfektion barrierefrei sein?!

Zugegeben, es ist toll, wie kreativ schwäbische Tüftler sind. Diese Woche las ich im Lokalteil meiner Tageszeitung, dass eine Firma einen Desinfektionsspender entwickelt hat, der sich mit dem Fuß bedienen lässt. Normalerweise baut die Firma Einrichtungen und Bewässerungssysteme für Gewächshäuser. Mitarbeiter haben sich Gedanken gemacht, wie sie sinnvoll ihre Gemeinde unterstützen können –und haben innerhalb von 10 Tagen den kontaktlosen Desinfektionsspender entwickelt, den man überall aufstellen kann. Ein Fußtritt löst einen Federmechanismus aus, der die Ausgabe des Händedesinfektionsmittels auslöst. Man muss nur die Hand darunter halten. Eine tolle Idee, keine Frage. Und die Gemeinde hat sofort eine größere Menge bestellt – für das Rathaus, die Schulen, und die Kindertagesstätten. Alle sind begeistert Wirklich alle? Wir fragen uns, wie Menschen im Rollstuhl oder mit Rollator dem Ding einen Fußtritt geben können? Und niemand fragt sich, wie blinde / sehbehinderte Menschen den Desinfektionsspender nutzen können. Warum nur wird Barrierefreiheit noch immer nur als nettes Beiwerk und nicht als unverzichtbarer Bestandteil unseres Alltags verstanden? Das bewegt mich, das bewegt uns im Verband sehr.

„Barrierefreiheit muss sein.“ Barrierefreiheit ist kein „nice to have“.