Corona lässt uns nicht los. Das Virus hat uns – allen Lockerungen zum Trotz – noch voll im Griff. Wie lange noch?
Wie lange geht das alles noch? Wann kann mein Kind, das in einem Wohnheim lebt, das Wochenende endlich wieder bei uns Eltern daheim verbringen?
„Wir erfahren am eigenen Leibe Diskriminierungen“, schreibt eine Mutter. Die Tochter ist Autistin – und sie hat eine Befreiung von der sog. Maskenpflicht, dem Tragen eines einfachen Mund-Nasen-Schutzes. Ein großes Einrichtungshaus hat die Familie mit dem Kind ohne Maske nicht reingelassen. Im Urlaub war es eine öffentliche Kultureinrichtungen. Die Familie wehrt sich, schreibt nette Mails, stellt Sachverhalte klar. Die Mutter endet ihr Schreiben an uns mit dem Satz: „Wir haben Angst, dass wir bald in keine Einrichtung – ob privat oder öffentlich – hineinkommen. Schlimm, dass wir alle das miterleben müssen.“
Wie lange noch? Wie wägt man richtig ab zwischen Infektionsschutz und Isolation? Diese Woche sagte ein Mann im Rollstuhl zu mir: „An Ostern waren wir noch alle gleich. Alle – Menschen mit und ohne Behinderung – waren zuhause, hielten Abstand, hatten Kontakte nur übers Telefon, Internet oder Balkon. Und jetzt? Jetzt sind wir Menschen mit Behinderungen sowie alte pflegebedürftige Menschen diejenigen, die möglichst nicht raus sollen. Jetzt sind wir es noch allein, die immer noch ziemlich ausgegrenzt sind. Unerhört, unsichtbar … wie lange noch?“
Gesundheit ist ein hohes Gut. Das sagen derzeit alle. Für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien ist das aber keine Floskel, sondern die Grundlage für das Leben überhaupt. Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte … das alles bestimmt den ganz normalen Alltag über Jahre und Jahrzehnte.
Angst vor Ansteckung mit dem Corona-Virus Eine Frau mit Behinderung beschrieb in einer E-Mail an mich ihre Ängste: „Viren haben meine Nerven zerstört und mir die Lähmungen beschert. D.h., ich bin grundsätzlich ängstlich, was Viren ausgelöste Krankheiten anbetrifft. Ich halte mich aus dem Grund dem öffentlichen Leben momentan wirklich fern, so gut es geht. Das fällt mir nicht leicht, aber sowohl ich wie auch mein Mann gehören zur Risikogruppe. Ich weiß nicht, ob ich eine Corona-Infektion überleben würde. Deshalb fühle ich mich viel sicherer, wenn sowohl ich als auch meine Mitmenschen, die es können, einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Nur so kann ich überhaupt Krankengymnastik machen. Wir haben beide eine FFP 2 Maske an. (…) Ich möchte an alle appellieren, eine Maske zu tragen. Es ist für Leute wie mich wirklich sicherer. Meine Ärztin hat mir ein anderes Attest einfach telefonisch ausgestellt, eben dass ich zur Risikogruppe gehöre. Auch nicht hübsch ,aber es ist halt so. Deshalb die Bitte, auch uns Gefährdete miteinzubeziehen. Ansonsten hocke ich für die nächsten ein bis zwei Jahre daheim fest!“
Wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht …
… ohne Wenn und Aber. Täglich erreichen uns seit Einführung der Maskenpflicht (einfacher Mund-Nasen-Schutz) verzweifelte Rückmeldungen von Menschen mit Behinderungen und Angehörigen, denen man den Zugang zu Läden verweigert, wenn sie keine Maske tragen. Sie haben den Schwerbehindertenausweis oder ein ärztliches Attest dabei. Das interessiert vor Ort niemand. Es kommt auch vor, dass andere Kunden die Menschen mit Behinderungen angehen und beleidigen. Das ist eine Diskriminierung. Und das ist schlicht nicht akzeptabel. Am Freitag hat die Deutsche Presseagentur (dpa) in einem Bericht auch auf diesen Missstand aufmerksam gemacht. Die Beratungsstellen gegen Diskriminierung rufen zu mehr Verständnis für Menschen auf, die aus medizinischen oder sonstigen zwingenden Gründen keine Maske tragen können.
Auch wir fordern nachdrücklich, mehr über die Ausnahmen von der Maskenpflicht zu informieren. Deshalb haben wir uns wiederholt an die Landesregierung gewandt und um Klarstellung gebeten. Vor Pfingsten haben wir in einer Mail an die Covid-19-Lenkungsgruppe der Landesregierung auf die Dringlichkeit hingewiesen – und wurden vom Staatsministerium auf die Zuständigkeit des Ministeriums für Soziales und Integration verwiesen. Die Landesbehindertenbeauftragte unterstützt unser Anliegen.
Und – um das hier auch klar zu sagen – wir sagen „ja“ zur sog. Maskenpflicht und „nein“ zu den sog. „Maskenverweigerern“.
Nein, diese Woche ist mir mehr zum Heulen denn zum Lachen. Niemand redet derzeit, wie Menschen mit und ohne Behinderung in einer inklusiven Gesellschaft gemeinsam gut durch die Corona-Krise kommen. Und selbst in mir, die ich mich gerne scherzhaft „edel-behindert“ bezeichne, spüre ich – erstmals seit meinen Kindertagen in den 1960er-Jahren – wie das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgegrenzt-Werdens aufgrund einer Behinderung zurückkommt. Und dabei wollen wir nur eins – dazuzugehören. Doch wer sich nicht anpassen kann, fliegt derzeit 1,2,3 – raus. Einfach so …
Stell Dir vor, es gibt eine Ausnahme von der Maskenpflicht – und (kaum) einer kennt sie!
Das Telefon stand diese Woche nicht still. Da ist Frau A., die ein ärztliches Attest hat, das sie von der Maskenpflicht befreit. Sie wird von der Security am Eingang eines großen Kaufhauses in Stuttgart am Betreten verhindert. Das Vorzeigen des Attests half nicht weiter. Und auch der Ruf nach der Geschäftsleitung änderte nichts an der Botschaft: „Sie kommen hier nicht rein.“ Und da ist Frau B., Mutter einer schwerstbehinderten Tochter, die keine Maske tragen kann. Sie musste für das ärztliche Attest 10 Euro Gebühren zahlen. Und wird von ihren Mitmenschen unterwegs schief angeschaut, dass sie sich nicht mehr traut, mit der Tochter unterwegs zu sein. Statt mit dem Bus fahren sie wieder mit dem eigenen Auto zum Arzt. Diese Blicke tun weh, verletzen, diskriminieren. Auch kenne diese Blicke aus meiner Kindheit …. es fühlt sich so schlimm an. Und das Schlimmste: man ist in diesem Moment so ausgeliefert, kann sich nicht wehren.
Die Corona-Verordnung Baden-Württemberg sieht aber Ausnahmen von der „Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen“ vor. In § 3 Absatz 1 Satz der Verordnung heißt es wörtlich: „wenn dies nicht aus medizinischen Gründen oder aus sonstigen zwingenden Gründen unzumutbar ist oder wenn nicht ein anderweitiger mindestens gleichwertiger baulicher Schutz besteht.“ Soweit, so gut. Doch die Werbekampagne der Landesregierung erwähnt die Ausnahmen nicht mal in der Fußnote. Wie also schaffen wir es, dass die Ausnahmeregelung nicht nur die Menschen mit Behinderungen kennen, die auf die Befreiung von der Maskenpflicht angewiesen sind?
Stell Dir vor, Du sitzt im Rollstuhl und kannst keinen Einkaufswagen benutzen!
Eine andere Frau, ein anderer Ort. Frau X lebt in der eigenen Wohnung und ist mit einem Elektro-Rollstuhl unterwegs. Wie gewohnt wollte sie in einem ihr bekannten Drogeriemarkt einkaufen. Am Eingang wurde sie von der Security aufgefordert, einen Einkaufswagen zu nutzen. Das funktioniert aber nicht mit Elektro-Rollstuhl. Eine Mitarbeiterin des Drogeriemarktes kam dazu, entschuldigte sich ein bisschen, blieb aber dabei, dass sie ohne Einkaufswagen nicht in den Laden könne. „Es ist halt so.“ Eine andere Kundin kam zur Hilfe und besorgte die gewünschten Artikel, während Frau X. im Rollstuhl draußen warten musste. Selbstbestimmung? Es ist so frustrierend, diskriminierend.
Beide Bespiele sind typisch. Und sie dürfen so nicht passieren. In beiden Beispielen liegt ein Verstoß gegen das Antidiskriminierungsgesetz (AGG) vor. Die neutrale Regelung (Masken- bzw. Einkaufswagenplicht zum Senken des Infektionsrisikos) als nicht sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig zu bewerten ist (§3 Absatz 2 AGG). Unverhältnismäßig ist, wenn es keine Ausnahme in begründeten Einzelfällen zugelassen wird. Durch eine solche Ausnahme würde das Infektionsrisiko auch allenfalls in einer zu vernachlässigenden Weise erhöht werden. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes sammelt solche Beispiele, die – leider – keine Einzelfälle sind.
Und die Moral von der Geschichte? Auch wenn es schwer fällt, wehren Sie sich gegen Diskriminierung im Alltag aufgrund einer Behinderung! Sie sind nicht allein! Selbsthilfe tut gut. Rufen Sie an, schreiben Sie uns! Gemeinsam sind wir stark!
Einfacher Mund-Nase-Schutz, Alltagsmasken, community mask – vor einigen Wochen redete hierzulande niemand darüber. Viele kannten die Begriffe höchstens von Reisen nach Asien. Im März noch hatte das Robert-Koch-Institut das Tragen von einfachen Mund-Nase-Schutz nicht empfohlen, änderte dann aber im Laufe der Wochen die Meinung. Einfache Masken helfen, lautet das Motto. Anleitungen zum Selbernähen finden sich im Internet genügend, z.B. auch unter https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/alle-meldungen/meldung/pid/auch-einfache-masken-helfen/
Alltagsmasken – mehr als Mode
In Bussen und Bahnen, beim Einkaufen … immer mehr Menschen tragen solche Alltagsmasken. Sie werden wohl zum angesagtesten Modeaccessoire des Jahres werden. Modefirmen bieten in ihren Online-Shops die passenden Masken zum jeweiligen Outfit an – aus Baumwolle, waschbar bei 60 Grad, nachhaltig. Am Mittwoch und Donnerstag warben die Bundeskanzlerin und der baden-württembergische Ministerpräsident für ein Maskengebot in der Öffentlichkeit. Damit könne man die Ansteckung anderer Menschen eindämmen. Am heutigen Freitag hat die Stadt Sulz am Neckar eine Maskenpflicht angeordnet. Und in der heutigen Ausgabe der „Südwest Presse“ wird der Vizechef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit den Worten zitiert, dass man dieser Empfehlung der Politik wenig abgewinnen könne. Die Verwirrung ist groß. Bei uns im Krodil wird auch heftig über das Thema „einfach Maske – ja / nein“ diskutiert. Können denn wirklich alle Masken tragen? Werden Menschen ausgegrenzt werden, wenn sie keine Masken tragen? Fragen über Fragen …
Unsere Vorstandsfrau Petra Nicklas sagt: „Meine Tochter wird sich so ein Ding binnen Sekunden vom Mund reißen, daran zerren und sich dann wahrscheinlich noch weh tun. Fittere Menschen mit Behinderungen, die verstehen, warum man sich schützen soll und wie man sie richtig anzieht, können dies tun. Aber was mit mit autoaggressiven Kindern, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, atetotische Kinder, usw.?“ Eine Frau mit chronischer Erkrankung hat Sorge, dass sich alle in Sicherheit wiegen, wenn sie einen einfachen Mund-Nase-Schutz tragen. Aber wenn jemand dann mit den Fingern ständig dran rumzupft – und dann vielleicht den Virus über die Hände weitergibt? Und wie geht es Menschen, die im Gespräch darauf angewiesen sind, von den Lippen abzulesen oder zumindest auch die Mimik brauchen, um das Gesagte zu verstehen? Und was ist in Wohngruppen, wie stellen wir sicher, dass jeder seine persönliche Maske nimmt und nicht einfach die, die gerade auf dem Tisch liegt? Und was kosten die Masken? Fragen über Fragen …
Ich habe zu Ostern eine selbst genähte Maske geschenkt bekommen. Sie ist aus Baumwolle, farbenfroh, chic. Natürlich habe ich die Maske gleich ausprobiert und angezogen. Bereits beim ersten Luftholen wurde ich in meine Kindheit katapuliert. Eine Erinnerung kam hoch, die ich total verdrängt hatte. Ich sah mich plötzlich wieder als 8-jähriges Mädchen, das auf dem OP-Tisch liegt und dem man eine Atemmaske überstülpt, um die Narkose für die anstehende große Operation einzuleiten. Es kroch wieder das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht in mir hoch. Und binnen Sekunden nahm ich die Maske reflexartig runter …
Alle wollen wir die Ausbreitung von Corona verhindern. Und alle sind wir aufgerufen, Abstand zu halten, damit wir wieder in unseren „normalen“ Alltag zurückkehren können. Ich beginne zuhause, trotz der schlimmen Erinnerungen, das Tragen der Maske zu üben. Einfach ist es nicht. Aber wieviel schwieriger ist es für die Menschen mit schweren Behinderungen? Wir müssen Wege finden, die Schwächsten nicht auszuschließen.