… aber bitte mit Abstand …

Ansteckung vermeiden „Wir halten zusammen. Auch mit Abstand.“ Die Landesregierung Baden-Württemberg wirbt mit diesem Motto in der aktuellen Coronakrise. Zusammenhalten zählt für uns als Selbsthilfeverband zur Grund-DNA, denn es waren in den 1960er Jahren die Eltern körperbehinderter Kinder, die zusammengehalten haben, sich gegenseitig Mut gemacht und unterstützt haben. Sie haben Ortsvereine und unseren Landesverband gegründet. Warum? Ganz einfach: weil sich die Gesellschaft damals nicht um die Familien mit behinderten Kindern gekümmert hat. Sie waren allein und fühlten sich allein gelassen.
Seit damals hat sich vieles verändert, verbessert. Eigentlich. Doch in der aktuellen Coronakrise kommen bei manchen Erinnerungen an die Gründerzeit auf. Familien mit behinderten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die derzeit Abstand halten und rund um die Uhr zuhause sind, Beruf, Haushalt, Pflege, Betreuung und vieles mehr organisieren, sind nicht nur gefordert. Nein, sie sind auch überfordert. Und sie sind leise, viel zu leise. Sie sind so angespannt im Alltag, dass sie kaum die Kraft haben, laut ihren Ärger, ihre Verzweiflung, ihren Hilferuf zu rufen. Sie hoffen auf Lockerungen, auf die Öffnung von Schulkindergarten, Schulen (SBBZ), Tagesbetreuung, gruppenbezogene Entlastungsangebote. Und natürlich wollen die Familien nicht den Gesundheitsschutz ihrer Kinder mit Behinderung oder gar ihre eigene Gesundheit in Gefahr bringen. Alle sind kreativ, haben Ideen zur Umsetzung – ganz pragmatisch. Für jeden Einzelfall.

Das Kultusministerium hat bereits im März Wege für eine Notbetreuung der Kinder mit Behinderung in SBBZ und Schulkindergärten aufgezeigt. Doch diese Möglichkeiten verpufften ganz oft, weil vor Ort Verantwortliche vermutlich Angst vor der Verantwortung haben, Angebote zu schaffen. In Elternbriefe wird vor der Inanspruchnahme von Angeboten der Notbetreuung gewarnt und auf die vielen Risiken hingewiesen. Eltern werden dadurch eingeschüchtert, sich zu melden und um Hilfe und Notbetreuung zu bitten.

Mich erreichen in den letzten Wochen viele solche Rückmeldungen. Und für mich das Schlimmste daran: ich kann nur zuhören, bin hilflos, kann ich konkret weiterhelfen. Dabei würde ich gerne mit der Faust auf den Tisch hauen, zum Telefonhörer greifen und den jeweiligen Verantwortlichen anweisen, doch bitte, bitte pragmatische Lösungen zu finden – natürlich mit dem nötigen Abstand und der Einhaltung der Hygieneregeln. Ja, das ist schwierig bei Kindern mit komplexen Behinderungen, die vielleicht nicht verstehen, was gerade los ist. Aber wir alle müssen es probieren, erklären, erklären und nochmals erklären. Wir müssen alles dafür tun, dass wir wieder langsam in den Alltag zurückfinden. Wir müssen uns selbst schützen, unsere Kinder, betreuende Kräfte, Lehrerinnen und Lehrer – einfach alle. Aber das erreichen wir nicht mit immer komplizierteren Dienstanweisungen und Warnungen. Wir müssen überlegen, wie wir Menschen mit Behinderungen begleiten können in ihren Alltag in Schulkindergarten, SBBZ, WfbM oder Tagesförderstätte – und welche Schutzmaßnahmen wir dazu brauchen. Geben wir zu: wir haben alle ein mulmiges Gefühl. Wir wissen alle nicht, was wirklich richtig oder falsch ist. Uns verbindet aber der Wille, was zu tun, was hilft. Im Kleinen und im Großen.

„Wir beraten persönlich: mit Regenschirm und Abstand.“

Wir haben unsere persönlichen Beratungen derzeit auch eingestellt. Oder auf ein Minimum reduziert. Das gilt auch für unsere Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatungen (EUTB) vor Ort. Und dennoch sind wir für alle da. Und – mit Abstand – gelingen auch kreative Lösungen für persönliche Beratungen. Ein Beispiel meiner Reutlinger EUTB-Kollegin Brigitta Hermanutz: „Gestern saß ich bei einer Klientin im Vorgarten bei Regen – eingepackt in eine Decke und mit Regenschirm versehen. Sie saß in ihrem Zimmer am offenen Fenster und so haben wir unsere Beratung gemacht. Das öffnet doch ganz neue Perspektiven.“

Familien allein zuhause

Seit 5 Wochen sind Kitas, Schulen und Horte geschlossen. Der Spagat zwischen Kinderbetreuung, Homeschooling und Beruf wird für die Eltern zuhause immer schwieriger. Auf Twitter machen sich die überforderten Eltern ihrem Ärger Luft unter dem Hashtag #coronaeltern. Darüber berichteten gestern die ZDF-Nachrichten: https://www.zdf.de/nachrichten/video/coronavirus-coronaeltern-im-internet-100.html

Und wie sieht es bei den Familien mit behinderten Kindern aus?

Darüber berichtet niemand. Die Familien sind nach 5 Wochen am Limit oder darüber. Schulkindergarten, Schule, Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM), Tagesförderstätten – alles ist zu. Wann es weitergeht, weiß derzeit niemand. Und Familienentlastende Dienste mussten ihre gruppenbezogene Angebote einstellen. Opas und Omas fallen ebenso als Betreuungspersonen aus, da sie vielfach selbst zu den Risikogruppen zählen. Die Eltern waren bereits am Tag 1 der Schließung der Einrichtungen am Limit – und das ist längst überschritten. Es sind vor allem die Mütter, die auch sonst die Betreuung und die Pflege ihrer behinderten Kinder – unabhängig vom Alter – stemmen. Und die Mütter, die endlich eine Eltern-Kind-Kur bewilligt erhielten, um vom Alltag aufschnaufen zu können, müssen weiter durchhalten. Auch die Eltern-Kind-Reha-Kliniken sind in der aktuellen Coronakrise geschlossen. Eltern am Limit. Wir erhalten viele Mails und Anrufe von Mütter – und wenigen Vätern -, die laut über ihre Erschöpfung sprechen. Dazu gehört Mut. Wir hören diesen „unerhörten Eltern“ zu. Aber leider haben wir auch keine Entlastung anzubieten. Und das macht mich ebenso wütend, traurig und hilflos.

„Alles easy“ – von wegen!

Die Momentaufnahme von Sabine Springer aus dem Landkreis Ludwigsburg steht stellvertretend für viele Mütter, denen wir hier eine Stimme geben wollen:

„Es ist sehr nett, dass sich einmal in der Woche der Klassenlehrer meldet und uns fragt, wie es denn läuft. Als Mutter eines verhaltensorginellen Kindes bin ich gewohnt, dass ich auf solche Fragen mit „es läuft gut“ antworte. Warum? Weil mein Umfeld das so von mir erwartet! Nach jedem Telefonat mit dem Klassenlehrer dachte ich mir, Mensch, warum hast Du nicht die Wahrheit gesagt. Ganz einfach, da ich es nicht gewohnt bin. Mein Bekanntenkreis und auch die Familie wäre tatsächlich überfordert mit einer ehrlichen Antwort. Wie, die kommt nicht zurecht? Uff, dann müsste ich ja da helfen, das kann ich aber nicht! Genau solche Aussagen haben wir schon zuhauf zu hören bekommen. Wir haben gelernt, dahingehend den Leuten ins Gesicht zu lügen und unsere Verfassung, unser Wohlbefinden und wie wir das immer alles managen mit „alles EASY“, „wir schaffen das“, „kein Problem“ zu kommentieren. Nun ruft der verzweifelte Lehrer an, auch da merkt man schon an der Stimme, „Hoffentlich läuft es bei denen, ich kann der Familie ja keine Lösung anbieten“, was soll ich da sagen? Klar läuft es bei uns, es bleibt uns ja nichts anderes übrig.

Wir haben uns letztes Jahr dazu durchgerungen, unseren Sohn ins Internat zu geben, da es mir körperlich sehr schlecht ging und zeitgleich unser Sohn durch seine Autoaggression viel Kraft von mir abverlangte. Sie sehen, der Entschluss für das Internat hatte einen Grund. Nun ist er seit 5 Wochen zuhause, ich habe seit 2 Wochen nicht mehr geschlafen und bin körperlich fix und alle. Wir haben null Chance irgendeine Betreuung für unseren Sohn zu bekommen, alle Kurzzeiteinrichtungen und auch Familienentlastende Dienste dürfen ihre Hilfe nicht anbieten. Entlastung von Seiten der Familie geht auch nicht, da wir zur Zeit nur per Telefon Kontakt zu den Großeltern pflegen.

Aufgrund meines momentanen Gesundheitszustandes werde ich vermutlich ein paar Wochen krank geschrieben. Aber auch Arztbesuche gehen leider nicht, ich kann ja meinen Sohn schlecht alleine lassen. Mit diesen Zeilen möchte ich einen kleinen Einblick geben, dass nicht alles „super“ zuhause läuft. Die Aussicht, dass wir noch lange Zeit auf Entlastung warten müssen macht es nicht leichter. Wir können auch auf kein zeitliches Ziel blicken, da es keins gibt, das mürbt zusätzlich.“

Alltagsmasken – mehr als Mode

Einfacher Mund-Nase-Schutz, Alltagsmasken, community mask – vor einigen Wochen redete hierzulande niemand darüber. Viele kannten die Begriffe höchstens von Reisen nach Asien. Im März noch hatte das Robert-Koch-Institut das Tragen von einfachen Mund-Nase-Schutz nicht empfohlen, änderte dann aber im Laufe der Wochen die Meinung. Einfache Masken helfen, lautet das Motto. Anleitungen zum Selbernähen finden sich im Internet genügend, z.B. auch unter https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/alle-meldungen/meldung/pid/auch-einfache-masken-helfen/

Alltagsmasken – mehr als Mode

In Bussen und Bahnen, beim Einkaufen … immer mehr Menschen tragen solche Alltagsmasken. Sie werden wohl zum angesagtesten Modeaccessoire des Jahres werden. Modefirmen bieten in ihren Online-Shops die passenden Masken zum jeweiligen Outfit an – aus Baumwolle, waschbar bei 60 Grad, nachhaltig. Am Mittwoch und Donnerstag warben die Bundeskanzlerin und der baden-württembergische Ministerpräsident für ein Maskengebot in der Öffentlichkeit. Damit könne man die Ansteckung anderer Menschen eindämmen. Am heutigen Freitag hat die Stadt Sulz am Neckar eine Maskenpflicht angeordnet. Und in der heutigen Ausgabe der „Südwest Presse“ wird der Vizechef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mit den Worten zitiert, dass man dieser Empfehlung der Politik wenig abgewinnen könne. Die Verwirrung ist groß. Bei uns im Krodil wird auch heftig über das Thema „einfach Maske – ja / nein“ diskutiert. Können denn wirklich alle Masken tragen? Werden Menschen ausgegrenzt werden, wenn sie keine Masken tragen? Fragen über Fragen …

Unsere Vorstandsfrau Petra Nicklas sagt: „Meine Tochter wird sich so ein Ding binnen Sekunden vom Mund reißen, daran zerren und sich dann wahrscheinlich noch weh tun. Fittere Menschen mit Behinderungen, die verstehen, warum man sich schützen soll und wie man sie richtig anzieht, können dies tun. Aber was mit mit autoaggressiven Kindern, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen, atetotische Kinder, usw.?“ Eine Frau mit chronischer Erkrankung hat Sorge, dass sich alle in Sicherheit wiegen, wenn sie einen einfachen Mund-Nase-Schutz tragen. Aber wenn jemand dann mit den Fingern ständig dran rumzupft – und dann vielleicht den Virus über die Hände weitergibt? Und wie geht es Menschen, die im Gespräch darauf angewiesen sind, von den Lippen abzulesen oder zumindest auch die Mimik brauchen, um das Gesagte zu verstehen? Und was ist in Wohngruppen, wie stellen wir sicher, dass jeder seine persönliche Maske nimmt und nicht einfach die, die gerade auf dem Tisch liegt? Und was kosten die Masken? Fragen über Fragen …

Ich habe zu Ostern eine selbst genähte Maske geschenkt bekommen. Sie ist aus Baumwolle, farbenfroh, chic. Natürlich habe ich die Maske gleich ausprobiert und angezogen. Bereits beim ersten Luftholen wurde ich in meine Kindheit katapuliert. Eine Erinnerung kam hoch, die ich total verdrängt hatte. Ich sah mich plötzlich wieder als 8-jähriges Mädchen, das auf dem OP-Tisch liegt und dem man eine Atemmaske überstülpt, um die Narkose für die anstehende große Operation einzuleiten. Es kroch wieder das Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht in mir hoch. Und binnen Sekunden nahm ich die Maske reflexartig runter …

Alle wollen wir die Ausbreitung von Corona verhindern. Und alle sind wir aufgerufen, Abstand zu halten, damit wir wieder in unseren „normalen“ Alltag zurückkehren können. Ich beginne zuhause, trotz der schlimmen Erinnerungen, das Tragen der Maske zu üben. Einfach ist es nicht. Aber wieviel schwieriger ist es für die Menschen mit schweren Behinderungen? Wir müssen Wege finden, die Schwächsten nicht auszuschließen.





Corona – einfach erklärt

Gelebte Selbsthilfe: Corona leicht erklärt mit Metacom Symbolen von Annette Kitzinger

Die Welt steht Kopf. Innerhalb kürzester Zeit wurde der normale Alltag im Land runtergefahren. Die Landesregierung schreibt in einer Corona-Verordnung was zu tun ist. Und was nicht. Kita schließen, Schule schließen, Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) schließen, keine Familienentlastende Dienste (FED) mehr. Der gesundheitliche Schutz der gesamten Bevölkerung steht ganz oben. Gut so. Aber: wie kann man diese vielen neuen Regeln schnell auch Menschen mit komplexen Behinderungen erklären? Seit Wochen dreht sich auch bei uns im Landesverband (fast) alles um Corona. Fragen über Fragen – von Menschen mit Behinderungen, von Angehörigen. Sie beginnen fast immer mit dem Wörtchen „warum“? Warum darf ich im Wohnheim keinen Besuch mehr bekommen? Warum darf ich nicht mehr in die Werkstatt? Warum ist das Tragen von Mundschutzmasken so wichtig? Aber auch ganz viele Ängste sind dabei. Das reicht von „mir machen die Mundschutzmasken Angst“ bis „wie lange geht das noch?“ Und „wie schütze ich mich vor diesem schrecklichen Virus?“ oder auch „wie wasche ich die Hände richtig?“

Viele Bilder – wenig Worte: Hände waschen ist ganz einfach!

Als das Land „heruntergefahren“ wurde, fehlten Infos in Leichter Sprache aus „erster Hand“, direkt von der Landesregierung, von den Behörden. Manch einer fragte sich, ob Menschen mit Behinderungen Bürger „zweiter Klasse“ sind. Natürlich nicht! Aber eine solche Krise zu meistern, ist für alle ganz schön schwer.

Selbsthilfe war – und ist – angesagt. Die Grafikerin Annette Kitzinger, die viele Menschen mit komplexen Behinderungen durch ihre Symbole für die Unterstützte Kommunikation (UK) kennen, hat ganz schnell die Informationslücke gefüllt. Sie hat Symbole gezeichnet, die ganz leicht erklären, was Sache ist. Einfach so. Ehrenamtlich. Und die Materialen werden ständig erweitert. Für uns ist Annette Kitzinger eine echte „Alltagsheldin“, die uns alle Mut macht. Und dafür sagen wir ganz herzlich „danke“!

PS: Alle Materialien zu Corona und Infektionsschutz gibt es kostenlos zum Download unter https://www.metacom-symbole.de/ (in der Rubrik „Download – verschiedene Materialien“ ganz nach unten scrollen)